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Bühne und Konzert Neues Musiktheater

Unter dem vergifteten Märchenmond

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Ein schöner, sehr seltsamer Traum: Szene aus Achim Freyers Inszenierung von Heinz Holligers „Schneewittchen“ in Basel Ein schöner, sehr seltsamer Traum: Szene aus Achim Freyers Inszenierung von Heinz Holligers „Schneewittchen“ in Basel
Ein schöner, sehr seltsamer Traum: Szene aus Achim Freyers Inszenierung von Heinz Holligers „Schneewittchen“ in Basel
Quelle: Monika Rittershau
Zwergenzausel und Zipfelwichtel wonnevoll in der Endlosschleife: Heinz Holligers faszinierende Robert-Walser-Veroperung „Schneewittchen“, inszeniert von Zaubermeister Achim Freyer in Basel.

Wenn drei Leute dasselbe wollen, muss noch lange nicht das Gleiche herauskommen. Und es könnte auch als Ergebnis in keiner Weise kompatibel sein, sondern sich in diversen Paralleluniversen bewegen.

So wie es vor acht Jahren an der Berliner Lindenoper war, als Achim Freyer, der Ende März seinen 80. Geburtstag feiernde Großmeister eines märchenhaften Zauberkastenregietheaters, auf Tschaikowskys „Eugen Onegin“ prallte. Die „lyrischen Szenen“ des einen und die verspielt-surreale Gegenmontage des anderen, das ging gar nicht zusammen. Denn Freyers Regie bestand aus einer 40-minütigen Bewegungssequenz, die sich ohne Rücksicht auf szenische Vorgänge und Akteinteilungen der Oper fünfmal wiederholte.

Ähnliches ereignet sich jetzt in Basel, wo Freyer Heinz Holligers 1998 als wohl wichtigste Uraufführung der Ära Pereira in Zürich herausgekommenes „Schneewittchen“ in seine poetisch-subjektivistischen Kreativfinger gelegt bekam. Doch diesmal funktionieren die dreimal 47 Minuten Bühnenmagie, die in strenger Zahlensymbolik über die in sieben Szenen strukturierte, knapp zweistündige Oper gebreitet werden.

Fröhliches Schweben mit Zipfelwichteln

Mehr noch: Sie helfen dieser Musiktheaterangelegenheit, die man statt so mancher anderer, sich wichtigtuender Uraufführung lieber öfter nachgespielt gesehen hätte, zu einer noch stärkeren Faszination des vergnüglich hintergründigen Schwebens. Und sogar für sieben sonst hier gar nicht vorkommende Zipfelwichtel hat die Regie gesorgt; auch wenn zwei nur als Gartenzwerge auftreten.

Heinz Holliger ist neben seiner Existenz als Staroboist und Dirigent auch ein schrulliger Komponist, der sehr präzise sein Klangmaterial verwaltet und einsetzt. Und er hat eine weitere Ebene über das symbolistisch verraunte, gar nicht kindgerechte, 1901 veröffentlichte „Schneewittchen“-Dramolett seines Landmannes Robert Walser gebreitet.

Dessen kurzen Vorwurf über eine postgrimmsche Versuchsanordnung, wo Schneewittchen, die Königin, deren Mann, der Jäger und der Prinz nach vollzogener Apfeluntat ihr Handeln reflektieren und mit diversen offenen Enden noch einmal retrospektiv durchspielen, ist durch die Vertonung bereits gedehnt, gestaucht, variiert, in verschiedene Stimmungen getaucht und damit interpretiert worden.

Das Märchen spricht, nicht der Dichter

Es geht hier noch mehr um Fiktion und Wirklichkeit. Denn schon bei Walser heißt es: „Das Märchen nur sagt so, nicht ihr und niemals ich.“

Das wispert leise und vergnügt, ballt sich aber auch bedrohlich zu Clustern, nützt Pfannendeckel, Peitsche, Glasscherben, Steine, singende Säge, Brummtopf, Prallstock und Superball zum Krachmachen, kann aber auch wunderleicht mit Harfen, Glasharmonika, Celesta und Akkordeon abheben.

Herrlich, wie Heinz Holliger selbst diese magischen, drolligen, versponnenen, aber auch biestig-störirischen Klangwelten aus dem hoch motivierten, diesmal nur 33-köpfigen Sinfonieorchester Basel aufsteigen lässt, wie sie duftig davonfliegen, sich aber auch als zäher Brei dahinwälzen. Virtuos, dabei immer durchsichtig und strahlkräftig.

Es gibt fabelhaft viel zu sehen

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Zum Schauvergnügen laden bereits die als groteske Prinzessinnen verkleideten Statistinnen am Reihenrand des Zuschauerraums ein, ein Schneewittchendouble im Tütü (Esther Lee) ist an der Rampe platziert, eine weitere Puppenvariation lugt aus einer Falltür.

Wird der Portalschleier durchsichtig, zeigt er ein Schlachtfeld: abgerissene Glieder, wie Hügel herumliegende Brüste, Därme, Schenkel, ein Kopf auf einer Säule. Schneewittchen lebt hier nicht mehr, die blutverschmierte Königin, die als böse Zauberin mit Stachelbrüsten auf halber Höhe in den Seilen hängt und sich gleich an Lunge und Herz ihrer Stieftochter laben wird, hat diese ganz offensichtlich auf dem Gewissen.

Doch bald schon tritt Schneewittchen in Gestalt und Stimme von Anu Komsi machtvoll in Erscheinung, nimmt sich ihr szenisches Daseinsrecht. Es folgt ein fein auschoreografiertes Achim-Freyer-Kaleidoskop in der Endlosschleife.

Schuhe brennen, es strahlt der Mond

Mit brennenden Schuhen, einem vergiftet strahlenden Mond, Zwergenzauseln mit Sanitärsauger-Penissen, einem wilden Jäger als Tiger (Christopher Bolduc), einem clownesken Prinzen (Mark Milhofer), der an seinen eigenen Fingern rauchen kann, einem schrankartigen König (Pavel Kudinov) samt seinem kopflosen Skulpturendouble und eben – als schriller Spielmacherin – der sonoren Maria Riccard Wessling als grausamer Königin auf dem Trapez.

Bis auf diese tragen alle Masken, sind Chiffren, nicht Individuen, monströse Figuren in Freyers immer neuem und sich doch treu bleibenden, besonders für die Moderne so ideal taugenden, längst kosmischen Bilderatlas.

Die einzige Schwäche von Holligers Werkgestalt ist die eher konventionelle Stimmgestaltung, die der Gefahr der Monotonie nicht ganz entgeht, mit einem elaborierten, eigenwilligen Orchestersatz kontrastiert und die Charaktere nicht wirklich formt. Achim Freyer überspielt das mit seinem autonomen, aber eben doch mit dem Stück verzahnten, es in stetigem Reigen vorantreibenden Bilderkarussell – durch dessen hermetische Kinderbastelei-Optik auch ein echter Jagdhund fast wie ein Fremdkörper aus einer ganz anderen Lebenswelt tollt.

Termine: 28. Februar, 3., 5., 22., 31. März, 3., 6., 11., 15. April

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