Bremen - Es ist schon eine merkwürdige Geschichte: Der Buchhändler Michel kommt in eine kleine Stadt, um ein Mädchen (Juliette) zu suchen, das er vor drei Jahren in einem Fenster erblickt hat. Die Bewohner der Stadt haben allerdings ihre Erinnerungen verloren und leben ausschließlich im Jetzt. Nur weil Michel sich noch an seine Kindheit erinnern kann, wird er gleich zum Kapitän der Stadt ernannt.

Im Laufe der Handlung, die die Frage offen lässt, was Traum und was Realität ist, begegnen ihm skurrile Figuren: Ein Kommissar, der gleichzeitig Briefträger ist; drei Herren, die Wein trinken, um sich zu erinnern; den Altvater „Jugend“; einen Handleser, der die Vergangenheit deutet; einen Erinnerungsverkäufer; einen Beamten, der ein zentrales, geradezu kafkaeskes Traumbüro leitet und viele mehr.

Juliette bleibt lange unsichtbar und ist zunächst nur als Stimme präsent. Und als sie erscheint, reden sie und Michel aneinander vorbei. Bei einem Streit über ihre unterschiedlichen Erinnerungen schießt er auf sie, weiß aber nicht, ob er getroffen hat. Und ob Juliette nur eine fixe Idee von Michel ist, ob sie real existiert hat oder existiert, bleibt in der Schwebe. Am Ende verliert sich Michel immer mehr in seine Traum- oder Wahnwelten und findet nicht mehr den Weg zurück.

Die Oper „Juliette“ des tschechischen Komponisten Bohuslav Martinu (1890– 1959) erinnert hier durchaus an Korngolds „Die tote Stadt“. Es sind drei Stunden, die sich mit der Thematik des Vergessens beschäftigen, die sich aber zu einem unvergesslichen Opernabend im Bremer Theater verdichteten. Regisseur John Fulljames ist eine geradezu exemplarische Inszenierung gelungen, die das Surreale, das Traumhafte und Traumatische, die (auch vorhandene) Komik und die Poesie des Werkes facettenreich aufgefächert hat.

Die Sänger müssen mehrere Rollen verkörpern, von denen jede individuell und charakteristisch ausgeformt wird. Analog zu der Entwicklung von Michel, der sich sich mehr und mehr in seiner Traumwelt verfängt, verändert sich das Bühnenbild. Im 1. Akt ist Michel noch außen vor einer Häuserfront mit vielen Fenstern, die lustig auf- und zuklappen. Im 2. Akt befindet er sich in einer Art Innenhof, um schließlich in den Katakomben des Traumbüros zu landen.

Die Musik von Martinu, im Stil mit Janácek vergleichbar, ist sehr vielseitig, teilweise von traumhafter Schönheit, teilweise rezitativisch verkürzt, teilweise lautmalerisch (Eisenbahn). Prachtvoll, wenn der volle Orchesterapparat „schweres Geschütz“ auffährt, psychologisch fein verästelt und sehr differenziert die Debussy-nahen Anteile. Clemens Heil und die Bremer Philharmoniker bescherten mit ihrer soghaften Wiedergabe reinste Freude.

Hyojong Kim gestaltete die Riesenpartie des Michel mit seinem farbenreichen, am Belcanto geschulten Tenor sehr fesselnd und eindringlich. Auch Nadja Stefanoff war mit verführerischen Tönen eine Juliette der Sonderklasse. Das restliche Ensemble erfüllte seine vielseitigen Aufgaben hervorragend.