Grosser Aufwand, wenig Wirkung

Eine auf unstimmige Effekte setzende Inszenierung und eine wenig überzeugende Besetzung – diese Minuspunkte des Opernabends glich vor allem die grossartige Leistung der Berliner Philharmoniker aus.

Lotte Thaler
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Der Luxus dieser Produktion sind die Berliner Philharmoniker im Orchestergraben. Sie übernehmen in der Schlussszene der Oper «Manon Lescaut» von Giacomo Puccini gleichsam die Regie, wenn Oboe und Flöte Manons nahenden Tod herzerweichend beklagen, nochmals alle Schönheit dieser Erde, alle Freuden der Liebe beschwörend. In der Musik finden wir das Wechselbad der Gefühle, die zunehmende Besessenheit durch eine Leitmotivik, die sich regelrecht in die Ohren bohrt, die hoch aufschäumenden Klangwogen, das Schwelgen und Schwärmen, die Ekstasen von Wagnerschen Ausmassen – aber auch die Ironie im heiteren ersten Akt, die liebenswürdige Zopfigkeit in der Tanzszene des zweiten, die plötzlichen Verdunkelungen, die furienhafte Gehetztheit am Ende des zweiten Aktes, bevor Manon abgeführt wird; schliesslich die drängende Gefühlswelle im orchestralen Intermezzo mit den betörenden Pizzicati der Kontrabässe, die Tragik des Schlusses mit den peitschenden Orchesterschlägen. Grossartige Musik. Den Verlauf der Oper steuert Simon Rattle eher aus sinfonischer Warte, mehr im Orchester als auf der Bühne verankert, was am Anfang noch zu kleinen Unstimmigkeiten mit dem imponierenden Philharmonia-Chor Wien führt. Rattle hat seine eigene Vorstellung, und die Sänger müssen ihm folgen. Deshalb hat er sie auch selbst ausgesucht, vor allem die Titelheldin Eva-Maria Westbroek, die bis 2006 an der Staatsoper Stuttgart verpflichtet war.

Befremdliche Besetzung

Sir Simon wird für diese Wahl seine guten Gründe haben – ganz nachvollziehbar sind sie nicht, denn eine italienische Sopranstimme hat diese reife, durchsetzungsstarke Sängerin nicht. An Kraft fehlt es ihr gewiss nicht, sie wird hier vor allem im vierten Akt gebraucht. Trotzdem: Fehlbesetzung – so wird hinter vorgehaltener Hand in der Pause überlegt. In der Tat mag man sich fragen, warum Frau Westbroek in Baden-Baden eine Partie singt, die nicht ihrem Rollenprofil entspricht. Zumal sie mit dem Italiener Massimo Giordano in der Rolle des Des Grieux einen prachtvollen Tenor an ihrer Seite hat, der manchmal eher wie ihr Sohn und nicht wie ihr Liebhaber wirkt. Aber das sind in Baden-Baden nur Äusserlichkeiten.

Aus welchen Gründen auch immer die Rollenbesetzung dieser «Manon»-Produktion erfolgte – künstlerische Überlegungen allein können es nicht sein, zu unterschiedlich sind die Stimmen und Charaktere. Lester Lynch als Manons Bruder Lescaut ist Amerikaner von schwarzer Hautfarbe, was das Verwandtschaftsverhältnis etwas infrage stellt. Liang Li, seit 2006 an der Stuttgarter Oper im Ensemble, ist der chinesische Geschäftsmann Geronte, der Manon aushält, bis sie zusammen mit Des Grieux flieht. Es sind gute, aber keine aussergewöhnlichen Stimmen, Stimmen, wie sie eben auch an normalen deutschen Opernhäusern anzutreffen sind. Von Festspielen erwartet man eigentlich mehr, zumal mit einem Orchester wie den Berliner Philharmonikern.

Manon kommt nicht in der Kutsche nach Amiens, sondern in der Eisenbahn. Der Regisseur Richard Eyre hat in der englischen Zeitung «The Telegraph» herausgefunden, dass der alte Bahnhof Baden-Baden – heute das Entrée zum Festspielhaus – im selben Jahr eröffnet wurde, in dem auch Puccinis Oper «Manon Lescaut» ihre erste Aufführung erlebte. Leider hat sich Eyre ein wenig verrechnet, die Oper wurde 1893 in Turin uraufgeführt, der Bahnhof jedoch erst 1895 eröffnet. Aber kleinlich darf man bei diesem Regisseur ohnehin nicht sein.

Wir befinden uns im ersten Akt in einer Bahnstation, die der Bühnenbildner Rob Howell aus einer komplizierten und ziemlich schrägen Stadtarchitektur errichtet hat: links eine gewaltige, fast stalinistisch anmutende Treppe für imposante Auftritte, rechts ein ramponiertes Hotel aus dem 18. oder 19. Jahrhundert, in der Mitte ein Strassencafé. Da schickt uns Eyre ein paar Wehrmachtsoldaten vorbei, und wir fragen uns beklommen: wo sind wir eigentlich? Die Antwort ist ganz einfach: Hier hat ein englischer Regisseur die im französischen Rokoko angesiedelte Oper eines italienischen Komponisten in die deutsche Besatzungszeit in Frankreich verlegt. Dazu passend treten alle in der Mode der vierziger Jahre auf (Kostüme Fotini Dimou). Auf diese Weise kann man in einer Oper, die inhaltlich nicht undeutscher sein könnte, noch ein paar Klischees unterbringen. Vielleicht, weil diese Koproduktion mit der Metropolitan Opera nach New York gehen wird? Aber auch ein amerikanischer Zuschauer dürfte sich im verschenkten dritten Akt fragen, ob die bösen Deutschen tatsächlich mitten im Krieg französische Prostituierte von Le Havre nach Amerika verschifften.

Ungereimtes

Mit Ungereimtheiten hat Eyre jedenfalls kein Problem. So darf man sich auch nicht daran stören, dass Manon von Anfang an eine Lebedame ist, die im eleganten Kleid mit Hut und reichlich Gepäck in Amiens ankommt, angeblich, um in ein Kloster zu gehen. Und dabei liegt doch «Sex in der Luft», wie wir in der Übertitelung lesen. Das Wort Liebe ist Eyre wohl zu uncool. Genau davon erzählt allerdings Puccinis «Manon» mit ihrem Liebeswahn und ihrem Verfallensein. Dies herauszuarbeiten, wäre eigentlich Aufgabe eines Regisseurs, dann ginge uns die Geschichte auch unter die Haut, dann könnten wir mitleiden. Aber im vierten Akt, wenn Manon stirbt und ihrem treuen Des Grieux ihre grosse Liebe gesteht: da hängt Eva-Maria Westbroek in einer Kuhle der zerborstenen Treppe aus dem ersten Akt – und wir sehen zu, wie hilflos die beiden einander ausgesetzt sind in einem grandiosen Opernfinale.

Glaubwürdigkeit erlangen diese Protagonisten bis zum Schluss nicht, auch die zwielichtige Gestalt des Bruders Lescaut bleibt unterbelichtet. Stattdessen verwöhnt Eyre das Baden-Badener Publikum mit zahlreichen konventionellen Tableaus in einem sicher sehr kostspieligen und fernsehgerechten Ausstattungstheater, das ausserdem seine technischen Tücken hat – für die Zuschauer schlägt sich das in zwei Pausen und einer längeren Umbaupause nieder.