Getrieben und entfremdet

Für die Schwetzinger Festspiele hat sich der Österreicher Bernhard Lang des Theaterstücks «Reigen» von Arthur Schnitzler angenommen. Die durchaus aktuelle Brisanz des Stoffs wurde nicht erfasst.

Marco Frei
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Schnitzlers «Reigen» gleicht einem mittelalterlichen Totentanz – vor Eros und Thanatos sind alle gleich. – Clara Meloni als Hausmädchen. (Bild: Martina Pipprich / SWR)

Schnitzlers «Reigen» gleicht einem mittelalterlichen Totentanz – vor Eros und Thanatos sind alle gleich. – Clara Meloni als Hausmädchen. (Bild: Martina Pipprich / SWR)

Um Arthur Schnitzlers «Reigen» ranken sich seit je etliche Missverständnisse. Auch die Einordnung des 1920 in Berlin erstmals vollständig aufgeführten Stücks als «erotische Literatur» ist ein solches Missverständnis – das wohl folgenreichste. Natürlich verführen und befriedigen sich in den zehn Dialogen Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft, die Begierde ist ein Thema – allerdings nicht das eigentliche. Den Pornografievorwurf gegen ihn bezeichnete Schnitzler zeitlebens als grobe Fehlinterpretation, und dies zu Recht.

In der Sexfalle

Tatsächlich lässt sich Schnitzlers Reigen mit einem mittelalterlichen Totentanz vergleichen. In der Sehnsucht nach Liebe und der Erfüllung der Begierde sind alle Menschen ähnlich gleich wie Kaiser und Bettler vor dem Tod. Darüber hinaus entlarvte Schnitzler als Arzt und Schriftsteller mit scharfem Verstand die gestörte Sozialität des modernen Menschen im Zeitalter der Industrialisierung, wofür er von Sigmund Freud hochgeschätzt wurde. Schnitzlers Menschen sind nicht einfach Getriebene, sondern Entfremdete. Dazwischen klaffen Abgründe – die in Bernhard Langs neuer Oper «Re:igen», die jetzt in Schwetzingen uraufgeführt wurde, allerdings ausgespart blieben.

Schon in der Inszenierung von Georges Delnon, der ab 2015 mit Kent Nagano die Hamburger Staatsoper leiten wird, war die Stossrichtung von Anfang an vorgegeben. Gleich zu Beginn liebten sich zwei Nackte, und in den zehn Szenen, die ursprünglich jeweils zehn Minuten dauern sollten, wurde eine Matratze unentwegt über die Bühne geschleppt – als Leitmotiv. Auf ihr amüsierten sich kreuz und quer eine Prostituierte (Almerija Delic), ein Polizist (Cornel Frey), ein Haus- und ein Schulmädchen (Clara Meloni), ein junger Mann und eine Schauspielerin (Alin Deleanu), eine junge Frau (Amélie Saadia) und ein Autor (Lasse Penttinen) sowie ein Ehemann und ein Privatier (Kai-Uwe Fahnert).

Damit man in diesem kunterbunten Treiben nicht den Überblick verlor, wurde mit Schriftzügen eingeblendet, wer sich gerade mit wem vergnügt. Dieser Reigen tappte letztlich in die Sexfalle, obwohl Schnitzlers Entlarvung der gestörten Sozialität des modernen Menschen heute aktueller denn je ist. Im Zeitalter von Internet und «social media» nämlich sind Sex und Liebe eine anonyme, unpersönliche Grösse geworden, und noch nie war Pornografie derart schnell, ungehindert und anonym zu beziehen wie heute im Netz. Längst schon diskutieren Suchtexperten und Sozialpsychologen über Vereinsamung und Pornosucht durch das Internet quer durch alle Schichten der Gesellschaft und die möglichen Folgen.

In Schwetzingen hätte ebendies das grosse Thema sein können – und sein müssen, zumal Schnitzler wohl selber erstaunt wäre, wie brisant sein «Reigen» rund hundert Jahre später ist. Stattdessen blieb es im Grunde bei der rein äusserlichen Fleischeslust; die Schärfung des Aktuellen erschöpfte sich darin, dass beispielsweise aus dem Grafen Schnitzlers ein Geschäftsmann wurde und der Librettist Michael Sturminger die Sprache «anpasste». Leider blieb von der fesselnden sozialpsychologischen Treffsicherheit der Originaldialoge Schnitzlers nicht viel übrig.

Die unterschiedlichen Methoden, einen Menschen auf die Matratze zu locken, waren gewiss erheiternd, auch erhellend. Allerdings ist Schnitzlers «Reigen» eben keine Flirtstudie, sondern eine unbestechliche, schonungslose Gesellschaftsanalyse. Einen derartigen Weitblick liessen weder Bühne noch Musik erkennen, obwohl es gute Ideen gab. So drehte Delnon die Anordnung von Bühne und Parkett um; während das Publikum auf einer provisorischen Tribüne sass, wurden die Musiker des Radio-Sinfonieorchesters und der Radio-Big-Band des SWR Stuttgart auf die Logen und Ränge verteilt. Der Mensch betrachtet sich selber, und auf einigen Plätzen des Parketts flimmerten Monitoren.

Die visuellen Zitate aus der Filmgeschichte verbanden sich mit Langs Paraphrasierungen aus Klassik, Jazz und Pop – wenngleich diese «audiovisuelle Intertextualität» etwas beliebig wirkte. Umso erfreulicher war es, dass Lang auf Beischlafmusiken verzichtete, wie man sie aus Dmitri Schostakowitschs «Lady Macbeth von Mzensk» oder dem Vorspiel zum «Rosenkavalier» von Richard Strauss kennt, womit er Schnitzlers Andeutungen im Original durch Bindestriche aufgriff.

Statt die Liebesakte auszukomponieren, schuf Lang gewissermassen Zwischenaktmusiken, die besonders gut gelungen sind – allen voran die Stille, die bis zum Ausbruch crescendiert wird. Unter der Leitung von Rolf Gupta hätten diese Hörmusiken nuancierter und wirkungsvoller ausgestaltet werden können. Sonst aber knüpfte Lang mit seinem Stil- und Genremix an die polystilistischen Collagen Bernd Alois Zimmermanns an, ohne deren existenzialistische Kraft zu erreichen, die die Zerrissenheit des modernen Menschen meint. Und mag sein, dass Langs «Theater der Wiederholung» mit den Loops und quasiminimalistischen Patterns Schnitzlers Idee der fortwährenden Variation des Immergleichen aufgreift; allerdings bleibt diese Technik bei Lang zu eindimensional.

Soziale Vereinsamung

Ein Ärgernis war hingegen der recht banale Einsatz des Countertenors für die Rolle der affektierten Schauspielerin. Das neue Musiktheater kennt überaus konzise Partien für Countertenor, Lang indessen bediente mit diesem Stimmfach abgegriffene Klischees – auch wenn Alin Deleanu darstellerisch und gesanglich glänzte. Aus der affektierten Schauspielerin wurde eine schrille Dragqueen, die schon bald ihre soziale Vereinsamung erkennen muss. Mit einnehmender, tragikomischer Wandlungsfähigkeit machte Deleanu seh- und hörbar, was sonst zu kurz kam. Stark war das, der Höhepunkt in diesem Reigen.