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Wiener Festwochen
Inzestfolgen mit scharfer Musik

Als ein Bluthaus voller Schatten und Inzest entpuppt sich das Elternhaus, das Nadja nach dem Tod ihrer Eltern verkaufen will. Die Tochter des Hauses wird von den Geistern und den Stimmen der gewaltsam aus dem Leben geschiedenen Eltern heimgesucht. Das Entsetzliche der sexuellen Nötigung und des Inzests wird von Komponist Georg Friedrich Haas detailliert rekonstruiert.

Von Frieder Reininghaus | 22.05.2014
    Sarah Wegener als Nadja Albrecht (l-r), Otto Katzameier als Werner Albrecht und Daniel Gloge als Axel Freund spielen bei einer Probe der modernen Oper "Bluthaus"
    Hier eine Szene aus den Proben zur Uraufführung 2011 in Schwetzingen. (dpa / SWR/ Thilo Beu)
    Nach der Bluttat steht das großzügig gebaute und geschmackvoll eingerichtete Elternhaus samt dem bestens gepflegten Garten zum Verkauf. Es treten nach einer neugierigen Alten - damit setzt die Handlung ein - die beiden Damen von der Bank auf. Dann, Schlag auf Schlag, ein gutes Dutzend Kaufinteressenten. Das Groteske oder Skurrile ihrer durchschnittskleinbürgerlichen Bekundungen im "tiefen Niederösterreich" wird von Händels Text dadurch unterstrichen, dass die Sätze aufgespalten in Aktion treten, oft als einzelne Wörter oder kurze Satzfragmente. Diese auf die vier Sänger und das Schauspieler-Rudel aufgeteilt.
    Gewalt und Gegengewalt in der Sprache
    Einer fällt dem anderen ins Wort und dreht es ihm im Mund herum. Als würde man dies nicht mitbekommen, erläutert der Textdichter: "Es herrscht in der Sprache dauernd Gewalt und Gegengewalt". Klaus Händl nahm billigend in Kauf, dass diese Art von Phrasen-Montage als nervend empfunden werden kann. Er hat das Potenzial der Sprachgewalttätigkeit als exzentrierende Steilvorlage für die Kompositionsweise von Haas vorsätzlich entwickelt. Es handelt sich um einen durchaus radikalen Versuch, neoexpressionistische Sprachformen zu entwickeln, die "sprengen", weil schlicht narrative Erzählweisen oder anderweitig aus der Alltagssprache destillierte Dialogformen dem ungeheuren Innendruck in Nadja und ihrer zunächst im Dunkeln gehaltenen Vergangenheit nicht angemessen erscheinen.
    Der Vater wird handgreiflich
    Die Tochter des Hauses wird von den Geistern und den Stimmen der gewaltsam aus dem Leben geschiedenen Eltern heimgesucht. Der Vater bedrängt fortdauernd bzw. wird handgreiflich. Das Entsetzliche der sexuellen Nötigung und des Inzests wird rekonstruiert - bis hin zur Liebesunfähigkeit der Tochter, die sich dem Makler kurzentschlossen hin- und hergibt, nachdem die aus Neugier hereingeschneiten Nachbarn die potenziellen Käufer mit niederösterreichischer Verschlagenheit über die blutige Vergangenheit der Immobilie aufklärten und damit in die Flucht schlugen.
    Exzellentes Solistenquartett
    Wie schon bei der Uraufführung 2011 in Schwetzingen steht der Wiener Festwochen-Produktion ein exzellentes Solistenquartett zur Verfügung (es ist das nämliche). Sarah Wegener bestreitet, dramaturgisch bedingt, einen besonders umfangreichen Part - ihre vokalsolistischen Anstrengungen bleiben bewunderungswürdig. Kaum weniger die des Maklers Freund, dem der Counter Daniel Gloger zwar nicht "Brillanz" im herkömmlichen Sinn zukommen lässt, doch außer der imposanten Statur auch die Befähigung zur Aus- und Überzeichnung der Groteske. Kaum weniger vorzüglich erscheint der Einsatz des letzten Gefechts der Eltern - Ruth Weber, die seit Längerem Haas-Uraufführungen promoviert (z.B. auch "Nocturno" in Bonn) und Otto Katzameier, der den erfolgreichen Innenarchitekten beglaubigt und Quitten aus dem Mustergarten einkocht.
    Kompositionskritische Einwände berücksichtigt
    Peter Mussbach ist vom Altenteil zurückgekehrt. Das war keine sonderlich gute Idee. Der auch als Geistes- und Sozialwissenschaftler sowie Jurist ausgebildete Neurologe lieferte das, was vom Feuilleton mit einer Verlegensheitsfloskel als "psychologische Inszenierung" bezeichnet wird: Die Akteure hasten, outrieren, agieren affektiert und benehmen sich ständig daneben. Der Komponist hat - das ehrt ihn - einige nach der Schwetzinger Premiere formulierte kompositionskritische Einwände berücksichtigt und insbesondere die ganz a cappella intonierte Ouvertüre und das VII. sowie VIII. Bild grundsätzlich überarbeitet.
    Ob sich Oper mit aktuellen Fragen beschäftigen solle, fragte der Komponist sich und seine Kundschaft rhetorisch im Vorfeld der Wiener Zweituraufführung - und antwortete entschieden: "Die Frage kann nur jemand stellen, der nicht an die Oper glaubt". Georg Friedrich Haas hat sich nicht nur diesen Glauben bewahrt, sondern auch einen musikalischen Impetus für die Liebe, die in "Bluthaus" nur in depraviertesten Formen statthat, und womöglich für die Hoffnung. Die aber bleibt vage - und das ist gut so.