1. Nachrichten
  2. Kultur
  3. Ergreifende Premiere für Brittens Oper "The Rape of Lucretia" in Bielefeld

Bielefeld

Ergreifende Premiere für Brittens Oper "The Rape of Lucretia" in Bielefeld

Gedemütigte Seele

27.05.2014 | 09.02.2023, 13:54
Ergreifende Premiere in Bielefeld - © Kultur
Ergreifende Premiere in Bielefeld | © Kultur

Bielefeld. Die Bielefelder Oper feiert nach "Peter Grimes" im Februar 2012 einen weiteren triumphalen Erfolg mit dem Opern-Oeuvre von Benjamin Britten. Elisa Gogou (1. Kapellmeisterin) und Andrea Schwalbach (Regie) präsentieren eine eindringliche Deutung der 1946 uraufgeführten Kammeroper "The Rape of Lucretia" (Die Vergewaltigung der Lucretia).

Die Protagonisten auf der Bühne (ein achtköpfiges Gesangsensemble) und im Orchestergraben (ein 13-köpfiges Instrumentalensemble) bieten traumhaft schönes und zugleich entsetzliches Musiktheater und hinterlassen ein bewegtes Publikum, das einen Opernabend der Spitzenklasse erlebt hat.

Lucretia, die Gattin des römischen Generals Collatinus, gilt als einzige tugendhafte Frau Roms. Das fordert den etruskischen Prinzen Tarquinius heraus. Als seine Verführungskünste nicht verfangen, vergewaltigt er sie. Der gehörnte Ehemann zeigt sich milde gegenüber der Gattin, die dennoch (oder gerade deshalb?) Selbstmord begeht. Ronald Duncan hat, gestützt auf André Obeys Schauspiel "Le Viol de Lucréce", ein hochpoetisches Libretto verfasst.

Frank Dolphin Wong (l.), Melanie Forgeron in Andrea Schwalbachs Bielefelder Britten-Inszenierung. - © FOTO: MATTHIAS STUTTE
Frank Dolphin Wong (l.), Melanie Forgeron in Andrea Schwalbachs Bielefelder Britten-Inszenierung. | © FOTO: MATTHIAS STUTTE

Auf dem Hintergrund eines Epochenwechsels zwischen etruskischer und römischer Herrschaft 500 v. Chr. entwickelt der sprachmächtige Librettist die Geschichte einer Gewalttat als abgründiges Spiel individueller Obsessionen und politischer Machenschaften. Die Scheidung zwischen "gut" und "böse" bleibt auf der Strecke, und die Grenzen zwischen Täter, Opfer und Zeuge verschwimmen.

Ein geistreicher Kniff, dass Andrea Schwalbach die Opernhandlung im juristischen Milieu ansiedelt. Das Verbrechen hat längst stattgefunden und wird unter der Federführung einer Anwältin und eines Anwalts nachgestellt. So gerät das historische Drama zu einer Art Familienaufstellung, die die Handlung aus dem historischen Kontext heraushebt und sie zu einem Archetypus verdichtet, der hier und jetzt seinen unheilvollen Schatten wirft.

Anne Neuser hat die Bühne in eine Kanzlei mit Aktenordnern verwandelt. Eine Matratze im Bühnenmittelpunkt ist der Tatort. Funktional das Outfit der Protagonisten: Robe und Aktentasche bei den Juristen; zeitgenössische Etikette und Eleganz bei den historischen Akteuren.

Daniel Pataky (Tenor) und Melanie Kreuter (Sopran) als geschäftige Anwälte reiben sich auf zwischen juristischer Nüchternheit und menschlicher Betroffenheit. Das Geschehen entgleitet ihnen, und sie versuchen verzweifelt, der Tragödie aus Sicht einer christlichen Vergebungsstrategie einen Sinn abzugewinnen. Die Hilflosigkeit des Menschen vor seiner eigenen Geschichte zeichnen die beiden mit beklemmender Überzeugungskraft. Bravourös meistern sie ihre große Partie.

Großartig ist Melanie Forgeron als Lukretia, ein sicher geführter gefühlvoll-warmer Mezzo-Sopran. Die tausend Facetten einer Seele zwischen Stolz und Demütigung gestaltet sie äußerst suggestiv, während Frank Dolphin Wong den Täter Tarquinius mit seinem mal stählern strahlenden, mal sensibel streichelnden Bariton zwischen die Pole von Gewalt und Angst spannt.

Moon Soo Park gibt einen Collatinus, der die Leiche seiner Gattin zum Instrument des römischen Aufstandes gegen den etruskischen Vergewaltiger herabwürdigt und sie so ein zweites Mal vergewaltigt. Sein scharf konturierter Bass, herrschaftlich und schwarz, bringt die explosive Mischung von seelischem Elend und machtgeiler Gefährlichkeit auf den Punkt.

Caio Monteiro ist der römische General Junius anvertraut, ein Vertreter aus der Gilde römischer "Hahnreie", der sich am Fall der Lucretia labt und instinktsicher die "richtige" Seite wählt. Ihm gelingt die Darstellung eines Schwächlings, dem am Tropf der Mächtigen selbst Macht zuwächst.

Cornelie Isenbürger und Nohad Becker bilden als Dienerin und Amme Lukretias "Hofstaat". Sie sehen nichts, sie hören nichts, und sie wissen doch alles. "Fast höre ich mich denken", singt die Amme. Glockenhell und leicht verspielt die Dienerin, sorgenvoll und dunkel vergrämt die Stillmutter.

Man weiß gar nicht, was man mehr rühmen soll. Die solistischen Glanzlichter der Sängerinnen und Sänger oder die ungemein intensiven Ensembles, die bei Britten eine zentrale Rolle spielen. Ähnliches gilt fürs Instrumentalensemble. Solistische Spitzenleistung, sei es im Streichquartett, sei es Oboe oder Klarinetten, sei es die Harfe, die einmal nicht nur im Hintergrund Stimmung macht, verschmelzen zu einer Ensembleleistung höchster Qualität. Elisa Gogou dirigierte mit liebevoller Souveränität kraftvoll und sensibel.

Hauptgarant des Premierenerfolgs ist schließlich die kongeniale Kooperation von Regie und musikalischer Leitung. Und allen ist bewusst: Regisseurin und Dirigentin haben eine gemeinsame Inspirationsquelle: Benjamin Brittens geniale Musik. Jede weitere Aufführung verdient es, ausverkauft zu sein.

Nächste Vorstellungen: 29. Mai; 3., 6., 22., 25. Juni; 2. Juli. Karten-Tel. (05 21) 55 54 44