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Bühne und Konzert Neue Musik

Durch den Schlamm, den Dreck zum Licht

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Musikalisch eine schwerelos tonschwebende Weltraumreise, tänzerisch eher erdenschwer: Martin Schläpfers Choreographie zu Adriana Hölszkys neuem Ballett „Deep Field“ in Düsseldorf Musikalisch eine schwerelos tonschwebende Weltraumreise, tänzerisch eher erdenschwer: Martin Schläpfers Choreographie zu Adriana Hölszkys neuem Ballett „Deep Field“ in Düsseldorf
Musikalisch eine schwerelos tonschwebende Weltraumreise, tänzerisch eher erdenschwer: Martin Schläpfers Choreographie zu Adriana Hölszkys neuem Ballett „Deep Field“ in Düsseldorf
Quelle: Gert Weigelt
Adriana Hölszky ist Deutschlands bedeutendste Komponistin. Die Nacht, das Abgründige, Querständige zieht sie an. Ihre Stücke schnalzen, schnarren, schreien. Man kann sich ihnen nicht entziehen.

Wenn sie sich verbeugt, dann denkt man immer unwillkürlich an eine verlegene Handarbeitslehrerin. Mit kleinen Schritten schiebt Adriana Hölszky (61) ihre stolze und trotzdem irgendwie entschuldigend geduckte, meist unauffällig bieder gekleidete Gestalt nach vorn. Beiläufig neigt sie knapp den Kopf, strahlt aber doch ein wenig stolz über den ihr entgegenbrandenden Applaus. Und tritt sofort wieder zurück, verbirgt sich in den Reihen der Mitwirkenden.

Gleich zweimal hat die Komponistin, die in Bukarest geboren wurde, längst aber in Deutschland naturalisiert ist und samt Rehpinscher Sancho in einem Stuttgarter Reihenhaus wohnt, gerade eben diesen notwendigen, aber ihr auch Pein bereitenden Parcours absolviert.

Tiefe Felder, böse Geister

In Düsseldorf ging beim Ballett am Rhein „Deep Field“ über die Bühne, ein Auftragswerk des dortigen Chefs Martin Schläpfer, der emphatisch nach neuen Partituren giert, seine hungrigen Tänzer auf unbekanntes Tonterrain loslassen will und für den Hölszkys schillernd-düstere Klangflächen ein wunderbares, eben weites und tiefes, vor allem aber abgründiges Feld geworden sind.

Schon zwei Wochen später gab es am Mannheimer Nationaltheater die Uraufführung der Oper „Böse Geister“. Für die hat sich Hölszky den eher als „Dämonen“ bekannten Roman von Fjodor Dostojewski ausgewählt. Den Buch hat sie von der Librettistin Yona Kim zergliedern, fleddern, exzerpieren und in brutalen Fragmenten auf drei parallel laufenden Ebenen neu zusammensetzen lassen.

Entstanden sind so zwei 70 und 80 Minuten lange, schrundig wispernde Partituren. Schroff sind sie, schillernd eigenwillige, extrem dichte Klangabenteuer, die selbst den Widerstrebenden (ja, es gab jeweils ein paar Buhs) sofort anspringen.

Eine Verhuschte, die sehr bockig sein kann

Fast ein Wunder, diese ungewöhnlich rasche Premierenabfolge. Sie ist anders als Wolfgang Rihm: Rihm ist ihr männlicher Konterpart, der sie durchaus auch selbstgefällig überstrahlt, ungemein alert und virtuos auch den Musikbetrieb bespielt und bisweilen auch bedient. Mit ihm teil sie sich die Position an der Spitze der bedeutenden lebenden deutschen Tonsetzer.

Adriana Hölszky aber ist eine langsame, schüchterne Arbeiterin, die nur schwer loslässt, auch mal Termine verschiebt. Trotzdem kann sie auf ein beeindruckendes, auch beeindruckend vielfältiges Œuvre zurückblicken.

Immer wieder Oper

Und immer wieder spielt dabei das Musiktheater eine Rolle. Die Bühne zieht sie, die verhuscht Wirkende, im Alltag bescheidene, aber auch konsequent Bockige, magisch an. „Böse Geister“ ist ihre siebte Oper. Eigentlich keine allerdings, außer der „Bremer Freiheit“, diesem „Singwerk nach einem Frauenleben“, mit dem sie 1989 bei Hans Werner Henzes Münchner Biennale für Neues Musiktheater schnell und nachhaltig bekannt wurde, erfüllt diese Gattungsbezeichnung.

Zu wenig hangelt sich Hölszky an bekannten Modellen entlang, schafft sich immer wieder eine eigene Dramaturgie, mögen die Vorlagen auch zum Teil berühmte Texte von Fassbinder, Jean Genet, Hans Neuenfels oder Ingeborg Bachmann sein.

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Die Nacht, das Abgründige, Querständige, Abstoßende zieht sie an, sie, die gedanklich Lichte, Luzide, wandelt gern im Dunkeln, im Schlamm, im Ausschuss und gibt dem in ihren mit kleiner, fester Schrift gefüllten Partiturkunstwerken, die auch großartige Kalligrafien sind, fesselnde, magisch individuelle akustische Gestalt. „Es wird im Dreck gewühlt“, sagt sie lakonisch.

Der Manipulator Lenin wird vorausgeahnt

So auch in ihrem jüngsten Dostojewski-Opus, für das man freilich alles Wissen um die sowieso schon verwirrende, überkomplexe Vorlage fahren lassen sollte. Der Roman kreist um den charismatischen Verführer Stawrogin und den nihilistischen Anarchisten Werchowenskij und zeichnet ein bitteres Panorama der unterdrückten, unselbstständigen, schließlich von politischen Manipulatoren wie Lenin benutzten ständischen Gesellschaft im Russland des späten 19. Jahrhunderts.

Der Regisseur Joachim Schlömer tut das freilich nicht. Er präsentiert sich lieber als dreister Alvis-Hermanis-Kopist und inszeniert zwischen enervierend herumgefahrenen Zimmerbruchstücken ein detailpusseliges Pelmeni-Idyll mit Blümchentapete, Puffärmeln und Teekessel, wo auch mal zwei Leichen an den Holzwänden kleben.

Dieser Realismus klärt nichts, schafft aber auch keine zweite Ebene. Dabei betont Adriana Hölszky in ihrer zerfetzten Musiktheater-Paraphrase in fünf Szenen und fünf orchestralen „Pausen“ gerade das chaotische, dabei gefährlich Überzeitliche dieser Machenschaften, die einen engeren Personenkreis, aber letztlich auch ein ganzes Land mit sich reißen.

Es dröhnt und scheuert und schrillt

So bleibt in Mannheim alles an der Musik hängen. Die hat Roland Kluttig perfekt im Griff. Da dröhnt und scheuert der massive Perkussionsapparat im Graben, leuchtet es grell, auch schrill auf.

Die neun, teils ätzende, teils gezackte, teils brummelnde Vokallinien absondernden Vokalsolisten sind im Dauereinsatz. Wobei der dandyhafte Stawrogin (Steven Scheschareg) nebst drei seiner mit Stricken und Transparentnachthemden ausstaffierten weiblichen Opfer halb im Zuschauerraum auf einem Sofa positioniert ist.

Schaudern machende Klanggeburten

Ganz hinten, oben steht der formidable Mannheimer Opernchor, Hölszky klanginszeniert ihn gern a cappella wie die Kirchenhymnen der Orthodoxen, aber in deren beunruhigendes Gegenteil verkehrt – als verwirrenden Kommentator. Der schnalzt, schnarrt, murmelt, schreit, wuselt mit scheinbar tausend Stimmen durcheinander und diffundiert doch präzise von der Schwere ins Fliegende.

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Immer wieder wechseln Adriana Hölszkys durchaus auch schaudern machende Klanggeburten und -gespinste ihren Schwerpunkt, sind weit weg und ganz nah, fesseln und umschlingen den offenen Hörer. Das ist faszinierend und phantasmagorisch.

Eine unbedingte Musik, die gefangen nimmt

Diese unbedingte Musik setzt sich auf einen drauf und lässt einen nicht mehr los. So wird „Böse Geister“ zum konzentrierten Klangtrip, der Stimmung transportiert und so mehr leistet, als wenn er wirklich nur eine Geschichte nacherzählen würde.

Schwer zu fassendes, verstörendes, gleichwohl einen nicht loslassendes, ja sogar unangenehm nachwirkendes Gefühl verbreitet auch „Deep Field“, Hölszkys Ballett für Düsseldorf. Auch hier, in diesen „Zehn KLANGbelichtungen einer METAmorphose“, ist man sofort in einen Strudel der Gleichzeitigkeit hineingezogen.

Die Symphoniker sausen durch die Lautsprecher

Unter Wen-Pin Chiens Leitung bocken und zucken die Düsseldorfer Symphoniker, die Otto Kränzler am Mischpult zudem genauso durch die Lautsprecher sausen lässt, wie den im obersten Rang positionierten WDR-Rundfunkchor, der noch souveräner durch die Untiefen dieser immer wieder auch graziös aufgefächerten Klangwellen surft.

Auf der Bühne vor einer schweren, unbeweglichen Netzskulptur von rosalie und in deren vielfältig übereinandergeschichteten, dabei hauchleichten, blauschwarzen Kostümen klumpen und kungeln, rennen und springen bis zu 42 Tänzer – die man jedoch bis zum Schlussapplaus nie gemeinsam auf der Bühne sieht.

Eine schwerelose Weltraumreise

Adriana Hölszky wollte immer schon gern für Tanz komponieren, weil der schneller, beweglicher ist, hier alles flutscht – und sie stellte sich eine schwerelos tonschwebende Weltraumreise durchs „Hubble“-Teleskop zu dunklen Planeten vor. Zudem hat sie sich, weil nicht dramaturgisch eingeordnet, in Düsseldorf gleich zum kleinen Skandal aufgeschäumt, neben Hesse, Hölderlin, Nietzsche auch von der verworren expressiven Kriegserfahrungslyrik des späteren Nazifunktionärs Hanns Johst inspirieren lassen.

Martin Schläpfer inszeniert aber mit seiner blendend-konturklaren Kompanie eher eine altväterlich-atavistische Gesellschaft, in der man verstört verharrt und plötzlich davonschnellt, in der sich nur wenig Individualität und Intimität findet, wo sich aber am Anfang und Ende schamanenhafte Momente des Vorlesens und Folgens ereignen können.

Es wird alles irdisch und schwer

Schließlich verschwinden alle hinter Masken. Das ist irdisch und schwer, obwohl Schläpfer auch auf Spitze tanzen lässt und seine sprungstarken Tänzer plötzliche Diagonalen schweben oder in lupenreinen Arabesquen verharren.

So ist hier in der Deutschen Oper am Rhein ein attraktiver, aktiver künstlerischer Widerspruch zu erleben, zwei gleich starke kreative, keineswegs böse Geister, die sich aneinander messen. Zum Wohle des Tanzes wie der Musik, jeder profitiert vom anderen, man verdoppelt nicht, man ergänzt sich zu einem größeren Ganzen.

Und an beiden Abenden wird deutlich. Adriana Hölszky ist eine Virtuosin der klanglichen Klüfte. Die sie aus sich heraustreten lässt. Weil sie will, weil sie muss – und vor allem weil sie es kann.

Termine: Mannheim: 12., 25. Juni, 27., 29. Juli; Düsseldorf: 7., 9., 15. Juni

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