Reifungsprozess im Zeitraffer

Der amerikanische Regisseur Bartlett Sher brachte dieses Jahr Gounods «Faust» auf die Baden-Badener Festspielbühne. Dem durchweg stimmigen Ensemble gelang eine subtile Produktion.

Lotte Thaler
Drucken
Für Sher heisst Gounods «Faust» eindeutig «Margarete», wie früher in Deutschland üblich. (Bild: Andrea Kremper / PD)

Für Sher heisst Gounods «Faust» eindeutig «Margarete», wie früher in Deutschland üblich. (Bild: Andrea Kremper / PD)

Eine ausgesprochen frauenfreundliche Inszenierung. Für den amerikanischen Regisseur Bartlett Sher heisst die Oper «Faust» von Charles Gounod eindeutig «Margarete», wie früher in Deutschland üblich. Im Zentrum steht «la femme», verkörpert durch die elfenhafte Schauspielerin Emanuela von Frankenberg, die während der gesamten Aufführung auf der Bühne anwesend ist, zunächst als Zuschauerin, dann zunehmend als aktive Teilnehmerin. Wer ist «la femme»? Fausts Ehefrau, die er in ihrem Krankenbett pflegt, aber nicht auf seine Verjüngungskur mitnimmt? Vertritt sie das «Ewig-Weibliche», das uns am Schluss von «Faust II» «hinan zieht»? Oder steht sie für die Ängste einer alternden Frau, ihren Ehemann an eine Jüngere zu verlieren, mit der er nur unglücklich werden kann? Auf sehr subtile Weise interpretiert Sher Gounods «Faust» als Anti-Anti-Aging-Oper, denn zu den finalen Orgelklängen kehrt «la femme» als einzige Überlebende, ungeliftet, in ihr Bett zurück. Über den Traum ewiger Jugend kann sie nur den Kopf schütteln.

«Unschuldige, heilige Seele»

Aber auch mit Margarete selbst geht Sher sehr respektvoll um. Sonya Yoncheva, die mit dieser Rolle schon in London und Wien anstelle der ursprünglich vorgesehenen Anna Netrebko auftrat, singt sie mit makellosem, dunkel timbriertem, lyrischem Sopran und zudem mit hoher Textverständlichkeit – Yoncheva studierte in Genf. Margaretes Seelenleben gehört Shers ungeteilte Aufmerksamkeit, deshalb beginnt die Aufführung eigentlich erst mit dem kammerspielartigen dritten Akt. Die beiden ersten Akte bilden dazu ein langes Vorspiel, auch wenn Sher in der Kirmes-Szene alles auffährt, was die Bühne des Baden-Badener Festspielhauses neben dem mächtigen Philharmonia Chor Wien an Requisiten und Statisten verträgt (Bühnenbild: Michael Yeargan).

Margaretes Schicksal ist ein Reifungsprozess im Zeitraffer: Gerade noch ein schwärmerischer Teenager, wird sie als Kindsmörderin zum Tode verurteilt. Und dabei ist Margarete von Anfang an ein Mensch, der sich auf seine Gefühle verlässt, ihnen sein Handeln unterstellt und daraus seine Würde erlangt. Faust dagegen mit dem ebenfalls lyrisch gesegneten Tenor Charles Castronovo muss Gefühle erst lernen – und kommt dann, wie so oft im richtigen Leben, zu spät.

Dass er die «unschuldige, heilige Seele», die er in Margaretes Garten buchstäblich in den höchsten Tönen angebetet hatte, zerstört hat, wird ihm erst in der diskret inszenierten «Walpurgisnacht» klar, als ihm Margarete im Traum erscheint. Diese emotionale Schieflage zwischen den Geschlechtern ist Shers Thema, der Umschlag von «ewiger Liebe» in «ewige Reue», nicht Sex and Crime.

«Nicht larmoyant»

Dem Baden-Badener Besetzungsbüro ist es mit der diesjährigen Pfingstproduktion gelungen, ein durchweg stimmiges Ensemble für eine Festspielaufführung zusammenzustellen. Erwin Schrott im unvermeidlichen schwarzen Ledermantel (Kostüme: Catherine Zuber) hat als Mephisto seine Traumrolle, in der sein voluminöser Bass röhren und sein teuflisches Lachen erschallen kann. Liebevoll bedacht und auch von der Regie plastisch unterstützt werden die kleineren Rollen: Margaretes Bruder Valentin mit dem sehr ansprechenden Bariton Jacques Imbrailo, die Hosenrolle des Siébel mit der präsenten Mezzosopranistin Angela Brower und vor allem die Marthe mit Jane Henschel als komische Alte.

Das NDR-Sinfonieorchester Hamburg schlägt sich als Opernorchester wacker im Graben, braucht allerdings eine lange Anlaufzeit, bis es zu wahrhaft dramatischen, bedrohlichen und dämonischen Farben vordringt. Thomas Hengelbrock am Dirigentenpult ist in Baden-Baden immer noch auf der Suche nach einem spezifischen Opernprofil. Vorerst definiert er seine Sicht noch ex negativo: «Nicht larmoyant» dürfe man Charles Gounods Musik spielen. Wie aber dann? Zumindest mehr Schneid für die mitunter krassen Wechsel in der Musik, mehr südländisches Temperament und vor allem mehr Geschmeidigkeit wünschte man sich, damit der Walzer im zweiten Akt nicht im Stechschritt daherkommt.