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Wenn die dritte Wahl zur ersten wird

Konventioneller Höllen-Ringelpietz mit Tingeltangel-Teufel: Erwin Schrott als Méphistophélès in Baden-Baden Konventioneller Höllen-Ringelpietz mit Tingeltangel-Teufel: Erwin Schrott als Méphistophélès in Baden-Baden
Konventioneller Höllen-Ringelpietz mit Tingeltangel-Teufel: Erwin Schrott als Méphistophélès in Baden-Baden
Quelle: Andrea Kremper
Die Bulgarin Sonya Yoncheva erkämpft sich als Einspringerin der Saison ihren Platz am Sopranhimmel. Dort glänzt sie an der Seite des teuflischen Erwin Schrott im Baden-Badener Gounod-„Faust“.

Eigentlich war Sonya Yoncheva im Festspielhaus Baden-Baden nur die dritte Wahl. Zunächst hatte Anna Netrebko die Partie der Marguerite in Gounods „Faust“ abgegeben, dann trat auch die eingesprungene Angela Gheorghiu von ihrem Engagement zurück – wegen Bedenken gegen die Regie. Dass ausgerechnet die bulgarische Sopranistin den Eröffnungsabend der Baden-Badener Pfingstfestspiele veredelt, ist bei dieser Vorgeschichte bemerkenswert.

Schon in London und Wien war Yoncheva nämlich für Netrebko in der gleichen Partie eingesprungen. Dafür nahm sie auch in Kauf, wiederum selbst absagen zu müssen (was ihr nicht nur Freunde verschafft hat), denn die Künstlerin gehört gegenwärtig zu den aufsteigenden Sternen der Vokalszene. Sony hat sie bereits exklusiv unter Vertrag genommen.

In Baden-Baden präsentierte sich die 32-jährige, schwangere Sängerin mit feinster Legatokultur, runder Tiefe und einer klangfarblichen Vielfalt, die ihren Gesangspartner Charles Castronovo als Faust ziemlich blass klingen ließ. Sie zeichnet die Entwicklung vom unschuldigen Mädchen bis zur verzweifelten Kindsmörderin stimmlich und darstellerisch nach, verbindet in der Juwelenarie technisch perfekte Koloraturen mit stilistischem Geschmack und Musikalität und bewahrt auch in den dramatischen Passagen der letzten beiden Akte ihre hohe klangliche Qualität.

Selbst in der Hölle geht es ästhetisch zu

Die darstellerische Wirkung der Figur könnte noch höher sein, wenn sich Regisseur Bartlett Sher nicht eine zweite, alte Marguerite (Emanuela von Frankenberg) ausgedacht hätte, die die ganze Zeit auf der Bühne liegt, steht, sitzt, rennt oder sich an irgendeiner Schulter anlehnt. Das Ganze ist als Rahmengeschichte gedacht und auch so inszeniert – das erste Bild gleicht dem letzten. Die Alte liegt mit weißem langen Haar und traurigem Gesicht im Krankenbett in Fausts Wohnzimmer (übersichtliche Bühne: Michael Yeargan) und wird von ihm gepflegt.

Die Geschichte wird als Rückblick erzählt – begrenzt originell. Auch die Doppelung einer Figur scheint landauf, landab zum öden, nichtssagenden Regietrend zu werden. In Baden-Baden gewinnt der Regisseur daraus jedenfalls keine neuen Erkenntnisse, sondern fügt mit einem Mädchen, das Marguerites Schwester verkörpern soll, noch eine zweite überflüssige stumme Rolle hinzu.

Überhaupt bebildert der Broadway-Routinier Bartlett Sher mehr als zu interpretieren. Die Geschichte wird in schicken Vierzigerjahrekostümen (Chaterine Zuber) erzählt, ohne dass sich daraus irgendwelche szenische Konsequenzen ergeben. Selbst in der Hölle geht es ästhetisch zu. Unfreiwillig komisch wird die wohltemperierte Ekstase der Halbnackten, wenn die gehörnten Teilzeitwollüstigen plötzlich, wie vom Inspizienten in die Kantine gerufen, ihr sexuelles Treiben mit Faust abbrechen und im Gleichschritt hinter die Bühne tänzeln.

Aber zumindest in einzelnen Szenen schafft der Regisseur über eine gute Personenregie mehr theatralische Wucht. Als Valentin (mit warmem Bariton, gelegentlich etwas forciert: Jacques Imbrailo) im Sterben seine Schwester Marguerite verflucht, entstehen packende Momente. Auch die Verwandlung des alten Faust in den jungen gelingt mit einem Taschenspielertrick verblüffend einfach.

Ein Gesichtsausdruck, zwei Gesten, drei Farben

Zumindest stört die Regie nicht die Musik, die bei Thomas Hengelbrock in den besten Händen liegt. Anstatt des auf Originalinstrumenten spielenden Balthasar-Neumann-Ensembles sitzt sein (koproduzierendes) NDR-Sinfonieorchester im Graben – und das überhaupt zum ersten Mal. Bis auf die Wiener F-Hörner spielen die Musiker auf modernem Instrumentarium: keine Experimente beim Debüt. Das Ergebnis kann sich hören lassen.

Die Stimmungswechsel gelingen punktgenau, der Orchesterklang hat Farbe und Durchsichtigkeit. Und wenn wie beim ganz wienerisch gespielten Walzer des zweiten Aktes der Klangkörper ins Schwingen kommt oder höllische Dramatik gefordert ist, sind die Hamburger ganz in ihrem Element. Nur die vielen bemerkenswerten Bläsersoli erscheinen mitunter etwas aufdringlich – zu sehr in den Vordergrund gespielt. Da merkt man dann doch, dass Oper nicht zum Alltag des Orchesters gehört.

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Für Charles Castronovo als Faust stellt sich das Problem, mit dem testosteronlastigen Teufel Erwin Schrott und der überragenden Sonya Yoncheva zwei auch darstellerisch sehr präsente Kollegen an der Seite zu haben. Mit seinem einen Gesichtsausdruck, den zwei Gesten und höchstens drei Farben erscheint seine Faust-Interpretation bei aller klanglichen Qualität dann doch zu eindimensional.

Sehenswert ist auch das Tänzchen

Erwin Schrott gibt Méphistophélès mit beängstigender Mittelage, Elvis-Tolle und Latinlover-Habitus. Er steht im Mittelpunkt, zieht die Fäden und wechselt fließend zwischen Charme und Brutalität. Stimmlich fällt Schrott in der Tiefe etwas ab, was des Teufels Potenz dann doch ein wenig hinterfragt.

Aber sein Tänzchen mit Marthe Schwerdtlein (schön komisch und luxusbesetzt: Jane Henschel) ist allemal sehenswert. Angela Brower gibt einen glockenhellen Siébel. Der Philharmonia Chor Wien (Einstudierung: Walter Zeh) agiert präsent und differenziert. Und behält auch seine hohe Qualität, wenn er in einzelne Ensembles unterteilt wird. Mit aller Routine und Sorgfalt bringt Thomas Hengelbrock diesen „Faust“ inspiriert über die wenig inspirierende Bühne. Und sorgt dafür, dass dieser Abend vor allem musikalisch in Erinnerung bleibt.

Termine: 12. Juni in Baden-Baden und 15. Juni in Hamburg konzertant

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