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Bühne und Konzert Ruhrtriennale

Schlaf, Hörer, schlaf, das Luftschiff hütet die Schaf’

Dematerialisiert: Rund 100 Schafe in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks in Heiner Goebbels’ aufwendiger Inszenierung Dematerialisiert: Rund 100 Schafe in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks in Heiner Goebbels’ aufwendiger Inszenierung
Dematerialisiert: Rund 100 Schafe in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks in Heiner Goebbels’ aufwendiger Inszenierung
Quelle: dpa/cas lof
Ein Ort für opulentes Experimentieren: Louis Andriessens philosophisches Musiktheater „De Materie“ und Romeo Castelluccis Maschinenballett nach Strawinsky eröffnen die Ruhrtriennale.

Alternative Wege des Musiktheaters zeigt Heiner Goebbels in seinen drei Jahren als Chef der Ruhrtriennale. Diesmal hat er „De Materie“ der Vergessenheit entrissen, einen philosophischen Opernessay des 75-jährigen Niederländers Louis Andriessen. Nach der Uraufführung 1989 in Amsterdam hat sich niemand mehr für das Stück interessiert. Das ist verständlich, denn es ist mehr als sperrig. Eine Handlung fehlt ganz, nicht einmal musikalisch gibt es dramatische Zuspitzungen.

Andriessen setzt sich mit der Begegnung von Geist und Materie auseinander, anhand von Beispielen aus der holländischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Der Forscher Golerius zum Beispiel entwickelt schon um 1600 eine frühe Atomtheorie, der Maler Piet Mondrian hat gern getanzt und der Dichter Wilhelm Kloos den Tod bedichtet. Im ersten Teil singt der achtköpfige Chor (grandios das Chorwerk Ruhr) einen Text über den Schiffsbau von 1690. Die musikalischen Einflüsse gehen von Barock und früher Kirchenmusik bis zu Big-Band-Sound und minimal music.

Irgendwann hört das Stück einfach auf, ohne einen erkennbaren Schlusspunkt zu setzen. Enzyklopädisches Musiktheater, als ob man in einem Lexikon mit akustischer Begleitung blättert. Dahinter steckt natürlich eine Aussage. Die Welt ist so vielgestaltig und unübersichtlich, dass ein großer Ordnungsgedanke scheitern muss. Also versucht Andriessen es gar nicht erst, sondern zählt auf, entdeckt und bewahrt, ohne zu werten und zu interpretieren. Eine historistische Haltung, die Gefahr läuft, beliebig zu wirken.

Zeppeline als Hirtenhunde

Ohne opulente Optik würden Andriessens Stücke kaum genießbar sein. In Amsterdam hat er mit den Filmregisseuren Peter Greenaway und Hal Hartley zusammengearbeitet. Hartleys Inszenierung von „La Commedia“ – sehr frei nach Dante – ist vor Kurzem bei Nonesuch auf CD und DVD erschienen. Auch Heiner Goebbels steckt nun viel Geld und Fantasie in „De Materie“. Er hat sich die größte Industriehalle der Ruhrtriennale ausgesucht, die 170 Meter lange und 35 Meter breite Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg Nord.

Zu Beginn fliegen drei ferngesteuerte Zeppeline über eine Fabriklandschaft und die Köpfe des Publikums. Auf einen von ihnen werden zwischendurch Übertitel projiziert. Am Ende hütet ein Zeppelin eine Herde von rund hundert Schafen, deren Geruch bald die Halle füllt. Dass man während der sprödesten Musikpassage des Abends Schäfchen zählen kann, ist sicher kein Zufall, Heiner Goebbels hat Humor und Selbstironie.

Das stärkste Bild ist die Vision einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert. Evgeniya Sotnikova rührt sich nicht von der Stelle, während sie singt. Ihr Sopran klingt hell und leuchtend, Andriessen mag diese Stimmlage. Eine seiner Inspirationsquellen für diesen Teil war die Architektur der Kathedrale von Reims. Ganz in schwarz gehüllte Statisten erinnern an Säulen, aber auch an dunkle Mönchsgestalten aus Gothic Novels.

Bühnenbildner Klaus Grünberg und Kostümdesignerin Florence von Gerkan haben – wie schon in den Vorjahren mit „Europeras“ von John Cage und der schrägen Hippiesession „The Delusion of the Fury“ von Harry Partch – ganze Arbeit geleistet. Auch der Sounddesigner Norbert Ommer bekommt den Riesenraum phänomenal in den Griff, sodass die Sänger und das perfekte Ensemble Modern Orchestra unter Leitung von Peter Rundel beste Arbeitsbedingungen haben.

Dennoch bleibt ein mauer Nachgeschmack. Denn es ist schon eine große Materialschlacht nötig, um diesen seltsamen Musiktheateressay aufführungstauglich zu machen. Für normale Opernhäuser wäre so etwas überhaupt nicht zu machen. Doch genau darin sieht Heiner Goebbels die Aufgabe der Ruhrtriennale. Hier sollen Stücke produziert werden, die woanders nicht möglich sind. Aber auch ihm gelingt es trotz aller Leichtigkeit der Bildersprache nicht, das zähe Werk durchgängig zu einem Erlebnis zu machen. Es gelingen wunderbare Momente, das Zuschauen ist aber auch schwere Arbeit.

Wer muss hier arbeiten?

Die „Arbeit“ scheint ohnehin der rote Faden des ersten Wochenendes dieser Ruhrtriennale zu sein. Die Videoinstallation des kürzlich verstorbenen Harun Farocki und seiner Frau Antje Ehmann, „Eine Einstellung zur Arbeit“ im Essener Museum Folkwang, setzt die Idee, Impressionen kommentarlos nebeneinanderzustellen, viel überzeugender um als Andriessens Oper.

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Und Romeo Castelluccis Idee, Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ nur von Maschinen tanzen zu lassen – ohne Menschen auf der Bühne –, passt perfekt ins postindustrielle Ruhrgebiet. Aus den eigens hergestellten Trichtern, die in der Gebläsehalle des Duisburger Landschaftsparks unter der Decke hängen, rieselt feiner weißer Staub. Es handelt sich um Knochenmehl von ungefähr 200 Kühen, wie es sonst als Düngemittel eingesetzt wird. Castellucci will damit das Verhältnis von Mensch und Natur ebenso wie den Opfergedanken reflektieren.

Doch diese Gedanken bleiben erst im Hintergrund. Zu Strawinskys ruppigen Rhythmen, die Teodor Currentzis mit dem Ensemble Musica Aeterna noch etwas rauer als gewohnt aufgenommen hat, drehen, fahren, heben und senken sich die Maschinen. Schließlich spucken sie Knochenstaub direkt vor die durchsichtige Trennwand zum Publikum. Eine eindrucksvolle Show, die plötzlich von einem Vorhang unterbrochen wird. Während die Musik zu Ende läuft, werden Erklärtexte projiziert, die eigentlich ins Programmheft gehören. Wenn der Vorhang wieder aufgeht, fegen Menschen in Ganzkörperanzügen den Staub zusammen für die nächste Vorstellung.

Nicht nur des Wortspiels wegen drängt sich die Vermutung auf, Castellucci habe seine Ideen zu schnell verpulvert. Vielleicht war am Ende der Inszenierung einfach noch zu viel Musik übrig. Wohlmeinender könnte man ihm unterstellen, er wolle die starke Maschinenshow absichtlich abbrechen, damit die Sache nicht zu kulinarisch-spektakulär wird.

Was bleibt, ist Ratlosigkeit

Jedenfalls sitzen viele Zuschauer am Ende ratlos da, einige klatschen kurz, andere gehen. Der Eindruck ähnelt dem von Castelluccis erster Arbeit bei der Ruhrtriennale vor zwei Jahren. Auch „Folk“ fing grandios an und hörte einfach auf, als man gerade in die starke Atmosphäre eingetaucht war. Romeo Castellucci erinnert an einen Spitzenkoch, der einen mit tollen Vorspeisen heißmacht und dann das Hauptgericht verweigert. Vom Dessert mal ganz zu schweigen.

Der große Wurf ist also am Eröffnungswochenende der Ruhrtriennale ausgeblieben. Castelluccis Maschinenperformance wird ihren Weg durch die koproduzierenden Festivals von Manchester und Paris gehen. „De Materie“ ist so für den speziellen Raum konzipiert, dass eine Gastspielreise kaum möglich scheint. Die Ruhrtriennale bleibt auch im dritten Jahr von Heiner Goebbels ein Ort für opulentes Experimentieren. In Zeiten allgemeiner Finanznöte wirkt das Festival wie eine Oase fürs kreative Spinnen.

De Materie: 22., 23., 24. August, Le Sacre du Printemps: 19. bis 24. August, www.ruhrtriennale.de

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