Der Sprung nach Afrika

Die neue Oper von Johannes Maria Staud und Durs Grünbein begibt sich – musikalisch bunt und vielfältig – in das Reich der Fabel, um die Bedingungen der modernen Arbeitswelt zu kritisieren.

Thomas Schacher
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Kritik an den Bedingungen der neuen Arbeitswelt: «Die Antilope» von Johannes Maria Staud und Durs Grünbein. (Bild: pd)

Kritik an den Bedingungen der neuen Arbeitswelt: «Die Antilope» von Johannes Maria Staud und Durs Grünbein. (Bild: pd)

Tierisch lustig geht es zu an dieser Firmenparty im 13. Stockwerk. Alle trinken Champagner: die vom Marketing, vom Personalabbau, von der Optimierung, von der Rechtsverdrehung und auch die von der Betriebspolizei. Der Chef preist in seiner Ansprache die Erfolge des Unternehmens. Nur einer lässt sich von der heiteren Stimmung nicht anstecken: der Mitarbeiter Victor. Als der Chef wegen Nasenblutens nicht mehr weitersprechen kann, hält Victor eine unverständliche Rede. Dann öffnet er das Panoramafenster und stürzt sich in die Tiefe.

Suche nach glücklichen Menschen

So beginnt die Oper «Die Antilope» des österreichischen Komponisten Johannes Maria Staud. Geschrieben hat er sie im Auftrag des Luzerner Theaters, koproduziert wurde sie zusammen mit dem Lucerne Festival und der Oper Köln. Das Libretto stammt wiederum, wie schon dasjenige von Stauds erster Oper, «Berenice», von Durs Grünbein. Der 40-jährige Staud, der in der Schweiz noch wenig bekannt ist, wirkt zurzeit als «composer in residence» beim Luzerner Sommerfestival und erhält so die Gelegenheit, mit diversen Stücken auf sich aufmerksam zu machen.

Nach dem – überlebten – Sprung aus dem Fenster begibt sich Victor auf die Suche nach glücklicheren Menschen. Doch er findet sie nicht: Das junge Liebespaar hat gerade eine Krise, im Café «Traumzeit» deponiert eine Mutter ihren Jungen, um eine Massage geniessen zu können, drei Ärzte auf dem Weg zum Nachtklub diagnostizieren bei Victor die «afrikanische Depression». Im zweitletzten Bild verschlägt es den Protagonisten in einen Zoo, wo er die eingesperrten Tiere bedauert. Es sind dieselben Wesen, die dann im Schlussbild, das an den Anfang anknüpft, wiederum als Angestellte der Firma erscheinen. Staud und Grünbein begeben sich also ins Reich der Fabel, um ihre gesellschaftskritische Botschaft zu verkünden: Hier die in den Produktionsprozess eingebundenen Arbeitstiere, dort die freiheitsdurstige Antilope, die sich nach dem ursprünglichen Leben in Afrika sehnt.

Die Uraufführung mit dem Luzerner Sinfonieorchester und dem Chor des Luzerner Theaters unter der Leitung von Howard Arman lässt einen Komponisten erkennen, der ein gutes Gespür für dramatische Abläufe hat. Stauds Musik kommt stilistisch vielfältig und klanglich bunt daher. Die Palette reicht vom flotten Champagnerchor bis zum expressiven Sologesang, vom rezitativischen Gejohle bis zur sentenzartigen Chornummer, von der Ironie der Doktorszene bis zur Poesie der singenden Skulptur. Das Orchester nimmt dabei teils eine illustrierende, teils eine zum Vokalen gegenläufige Haltung ein. Der Aussenseiter Victor wird an einigen Stellen durch eine unverständliche «Antilopensprache» und durch tierische Laute gekennzeichnet. Das alles ist handwerklich sehr solide gebaut, und dennoch fehlt dieser Musik eine gewisse existenzielle Erschütterung, die dem Stoff angemessen wäre.

Mangel an Identifikationsmöglichkeit

Dominique Mentha, der regieführende Direktor des Luzerner Theaters, nimmt die Anlage der Oper als Fabel wörtlich: Seine Kostümbildnerin Ingrid Erb hat für die Firmenmitarbeiter Tiermasken entworfen, die je nach Situation angezogen oder abgelegt werden. Der Chef ist natürlich der Löwe, aber die Antilopenmaske trägt nicht Victor, sondern einer der Crew. Doch mit seinem hellen Anzug fällt Victor inmitten der schwarzgekleideten Mitarbeiter klar aus dem Rahmen. Auch das Bühnenbild von Werner Hutterli akzentuiert immer wieder den Kontrast von Kollektiv und Individuum.

Der Amerikaner Todd Boyce gestaltet die Titelrolle hervorragend als stimmlich weicher Bariton und charakterlich weltverlorener Träumer. Dass die übrigen Rollen der Oper alle namenlos sind und nur episodische Bedeutung bekommen, entbehrt zwar nicht der Logik, verhindert aber, dass man sich als Zuschauer mit ihnen identifizieren kann. Insbesondere fehlt eine starke Frauenrolle, die als Gegengewicht zu Victor auftreten könnte. Ansatzweise ist sie durch die singende Skulptur von Carla Maffioletti gegeben, die im vierten Bild unerwartet im «antilopischen Stil» von Victor zu singen beginnt.