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Bühne und Konzert Musical

Cherbourg mon amour

Mutter und Tochter in Sempé-Strichelkulisse: Marie Oppert und Natalie Dessay in „Les Parapluies de Cherbourg“ Mutter und Tochter in Sempé-Strichelkulisse: Marie Oppert und Natalie Dessay in „Les Parapluies de Cherbourg“
Mutter und Tochter in Sempé-Strichelkulisse: Marie Oppert und Natalie Dessay in „Les Parapluies de Cherbourg“
Quelle: Théâtre du Châtelet
Natalie Dessay überstrahlt die Konzertfassung des Filmmusicals „Die Regenschirme von Cherbourg“ mit Komponist Michel Legrand am Pult und Sets von Sempé. Die Koloratursopranistin wird zur actrice.

Singt sie? Singt sie nicht? Sie sang! Natalie Dessay musste gerade im letzten Jahr wieder öfter passen und sich wegen stimmlicher Probleme ersetzen lassen. Doch bei dieser neuen Bühnenfassung der „Regenschirme von Cherbourg“ machte sich niemand Sorgen um ihre Teilnahme. Schließlich entspricht gerade das Filmmusical ihrem Wunsch nach einer Art zweiter Karriere.

Im Oktober 2013 hatte sie angekündigt, sie wolle sich verstärkt dem Theater und leichteren musikalischen Genres widmen. In der Tat, auch für Koloraturstimmen der Ausnahmeklasse gibt es ein Leben nach der Oper! In der Bearbeitung des melodramatisch farbsatten Filmmusicals von Jacques Demy kommt Dessays schauspielerische Kraft voll zum Ausdruck. Ihre Stimme strahlt und gleitet mühelos durch die Partitur von Michel Legrand, dessen Chansons Dessay bereits auf einem neuen Album vorgestellt hat.

Der Eröffnungsjubel galt dann bei der Premiere am Théâtre du Châtelet auch nicht Dessay, sondern Legrand. Der reihte sich zu Beginn in die kurze Parade der Regenschirmträger ein. Seiner war gelb, als einziger zwischen den dunklen Mänteln und Schirmen der gesamten Truppe. Die Bravos hallten von allen Seiten des Saals. Man war ja zum Feiern gekommen. Dann trat Legrand (der Große) ans Dirigentenpult, das genauso wenig im Orchestergraben stand wie die Musiker. Diese konzertante szenische Fassung des 1964 mit der goldenen Palme von Cannes ausgezeichneten Filmstoffs hat kein Bühnenbild außer dem Orchestre national d’Île-de-France, dem die hintere Hälfte der Bühne gehört.

Hier glänzte die einst unbekannte Catherine Deneuve

Wer die visuellen Noten des Films wiederfinden will, muss sich eine andere Bearbeitung ansehen oder am besten gleich auf die restaurierte Fassung des Films ausweichen, in der die damals noch kaum bekannte Catherine Deneuve die Rolle der Geneviève mit der Stimme von Danielle Licari spielte. An solchen Effekten forscht heute die Elite der Elektronikexperten.

Bild und Ton werden im Film ohnehin nachträglich zusammengeführt. Warum also nicht eine fremde Stimme, fragte Demy vor fünfzig Jahren. Der Weg war frei für den ersten gänzlich gesungenen Spielfilm, der sein Vorbild „Singin’ in the Rain“ in dieser Hinsicht klar übertraf. Heute muss die junge Marie Oppert, selbst Tochter einer Dirigentin, gleichzeitig singen und schauspielern, was ein hoher Anspruch an eine Siebzehnjährige ist, die wie damals Deneuve noch ganz am Anfang ihrer Laufbahn steht.

Vor allem aber muss sie Natalie Dessay in der Rolle ihrer Mutter Paroli bieten, und die ist derzeit kerngesund. So federt sie durch das Stück mit einer Leichtigkeit, die sie frischer und jugendlicher erscheinen lässt als ihre Bühnentochter. Die im Drehbuch angelegte Rivalität der Generationen drückt auch den Kostümen ihren Stempel auf. Es kann in einer solchen Inszenierung nur ein einziges knallrotes, erotisch aufgeladenes Kleid geben. Und das gehört Dessay statt der verliebten, von ihrem Guy verlassenen und schließlich den Schmuckhändler Cassard heiratenden Geneviève, dem Objekt aller Begierden.

Der Liebhaber ist der Ehemann der Diva

In der Bariton-Rolle Cassards brilliert Laurent Naouri, im Leben Dessays Ehemann. Die beiden kennen sich auch auf der Bühne gut, stehen sie doch immer wieder gemeinsam auf den Opernbühnen diverser Kontinente. Sie sei inzwischen zu alt für Mädchenrollen, die ihrer stimmlichen Textur entsprechen, gab Dessay als einen der Gründe für ihren Abschied von der Oper an. Dafür setzt sie hier nun jede Geste genauso klar, präzise und lebhaft wie ihre Rezitative.

Nichts lenkt die Aufmerksamkeit von ihr ab. Die artifiziellen, kitschigen Farbtöne des Films werden nur in den Lichteffekten auf der Bühnenrückwand zitiert. Statt Diskothek, Hafen, Wohnung etc. gibt es tragbare, schwarz-weiße Zeichnungen aus der Feder des hochverehrten Jean-Jacques Sempé, die die Schauplätze zart gestrichelt andeuten. So bleibt der Fluss der Handlung voll erhalten, die fünfundneunzig Minuten der Aufführung übertreffen die Filmlänge um ganze vier Zeigerumdrehungen.

Der Stoff wird zeitlos

Dessay verzichtet auf Koloratur, Regisseur Vincent Vittoz auf Blümchentapeten, den Hafen und die Tankstelle, an der sich das verhinderte Paar zum Schluss flüchtig begegnet. Vanessa Seward, ehemals Couturière bei Lagerfeld, YSL und Azzaro, interpretiert die Kostüme des Films aus heutiger Sicht.

Indem Demy Frankreichs Kolonialkrieg in Algerien zitiert, was seinerzeit einem Tabubruch gleichkam, schrieb er den Stoff in seiner Zeit fest. Die Neubearbeitung macht ihn zeitlos. Am Ende sind Musik und Gesang die alleinigen Triebfedern. Legrand hebt sämtliche Melodien – ob Chanson, Jazz oder Latino-Rhythmen – auf die Stärke eines Symphonieorchesters und zeigt, dass er es mit Gershwin oder Eifman aufnehmen kann. Damit erfüllt der Abend seinen Hauptzweck.

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