Dieser Premierenabend versprach etwas Besonderes für seine 300 Gäste: Für seine neue Produktion Odyssee, die aus einer Aufführung von zwei Werken Claudio Monteverdis und Luigi Nonos bestand, baute das Staatstheater Darmstadt extra außergewöhnliche Publikumsplätze. Fünfzehn Minuten vor dem Opernbeginn war die Tür zum Zuschauerraum, der eigentlich circa 1000 Plätze fasst, immer noch zu. Durch eine kleine Tür daneben ließ man schließlich das vergleichsweise kleine Publikum hinein. Die Zuhörer wurden durch das Backstage geführt, kamen an den Künstlerräumen, Abstellkammern und einem Treppenhaus vorbei und erreichten die Bühne des Großen Hauses. Am Rand der Bühne hielten sich schon sieben Orchestergruppen bereit, die Mitte der Bühne wurde für das Publikum frei gelassen. Das Darmstädter Staatstheater bot ein anderes Hören an, wobei es keine offiziellen Sitzplätze gab und die Zuhörer frei auf der Bühne umher wandern konnten. Das allerdings führte zunächst zu Unsicherheit und einem Publikum, das einige Minuten eher hilflos herumstand.

Mit dem Einsatz leiser Schläge von Bongos und großen Trommeln begann Luigi Nonos No hay caminos, hay que caminar ...Andrej Tarkowsky, dessen Titel – „Es gibt keine Wege, also geh“ – bei dieser Darmstädter Produktion mit dem Symbol des Wanderers Odysseus aus Monteverdis Komposition Il ritorno d’Ulisse in patria in Verbindung gebracht wurde. Zu Anfang des Stücks gingen die Zuhörer mit leisen Schritten auf Zehenspitzen, damit die erklingende Musik nicht gestört wurde. Der stille Moment spielte eine wesentliche Rolle in diesem Stück, wodurch eine große Spannung in der Musik entstand. Allmählich bewegte man sich dann aber geräuschvoller, was tasächlich auf Kosten des Spannungsbogens ging. Dennoch war dies vom Produktionsteam des Hauses beabsichtigt. Es betonte so die Koexistenz des Publikums mit den Interpreten, und die Zuhörer waren mit ihren Schrittgeräuschen auch aktiv an der Vorstellung beteiligt, ihre Schritte somit ein Teil der Inszenierung. Das Orchester des Staatstheaters Darmstadt ging unter der Leitung von George Petrou sehr gut mit dieser ungeheuerlichen Spielsituation um.

Man verzichtete auch auf eine Pause zwischen den Werken, sodass am Ende des ersten bereits Figuren aus dem zweiten auftraten. Sänger hatten sich auf der Bühne unter das Publikum gemischt und wurden von Bühnentechnikern dafür vorbereitet, an einem Seil nach oben gezogen zu werden. An den letzten, ausgehaltenen Ton der zeitgenössischen Musik Nonos schloss sich unmittelbar die Musik Monteverdis an. Es ergab sich dabei eine musikalische Zeitreise von etwa 250 Jahren, durch die das Orchester die Zuhörer mit seinem flexiblen Spiel führte. Aufhängt von der Decke, über den Köpfen der Zuschauer sangen Katja Stuber als Amor, Jana Baumeister als Fortuna und Thomas Mehnert als Tempo und verbreiteten eine märchenhafte Stimmung. Allmählich schwebten sie dabei auf die Bühne herab und landeten singend im dort stehenden Publikum, das neugierig ihre Nähe suchte, denn so hatte man Oper noch nie erlebt. Die Instrumentalisten ließen diese Alte Musik temperamentvoll erklingen und die Sänger erfüllten ihre mythischen Rollen mit Leben. Besonders die Mezzosopranistin Mary-Ellen Nesi spielte Penelope melancholisch und leidenschaftlich, was bei den Zuhörern viel Sympathie erweckte.

Nach dem ersten Akt gab es dann doch eine Pause, in der das Publikum einen Platz bekam – jedoch nicht im Zuschauerraum, sondern am hinteren Rand der Bühne. Dort hatte man Sitzplätze gebaut, die dem Zuschauerraum gegenüber standen. Von dieser Publikumsperspektive aus ließ sich die Bühnenausstattung und -technik des Theaters an diesem Abend gut verfolgen – verschiedene Bühnenteile wurden herauf oder herunter gefahren, Darsteller sowie Bühnenbilder wurden zur Decke heraufgezogen – wobei sich die Frage stellte, ob die Arbeit mit der Bühnentechnik unbedingt Teil der Inszenierung sein musste. Auch mag sich die symbolische Bedeutung des von der Decke hängenden Metallblattes - ein Donnerblech - nicht unbedingt jedem erschlossen haben.

Trotz dieser kleinen Haken der experimentellen Inszenierung präsentierte das Staatstheater Darmstadt mit seinem neuen Intendanten Karsten Wiegand einen beeindruckenden Saisonstart. Wiegands Suche nach einer neuen Ausrichtung des Theaters, die wie die abenteuerliche Heimkehr Odysseus’ ein strenger Weg sein müsste, erlebte das Publikum diesmal hautnah und verwandelte das Haus in eine offene kulturelle Einrichtung für alle. 

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