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Bielefeld

Beklemmendes Psychodrama

Puccinis "Madama Butterfly" am Bielefelder Theater ist ein großer Abend

Butterfly (Soojin Moon,r.) hält ihrem Alter Ego, das gerade die Dienerin Suzuki (Melanie Forgeron) würgt, mahnend ein christliches Kreuz vor das Gesicht. | © FOTO: BETTINA STOESS

Butterfly (Soojin Moon,r.) hält ihrem Alter Ego, das gerade die Dienerin Suzuki (Melanie Forgeron) würgt, mahnend ein christliches Kreuz vor das Gesicht. | © FOTO: BETTINA STOESS

30.09.2014 | 30.09.2014, 10:00

Bielefeld. Ein Taschentuch nebst Anleitung zum Basteln eines Origami-Kranichs gab es für die Besucher vor der Premiere der Puccini-Oper "Madama Butterfly" im Bielefelder Stadttheater. Was anfangs nur wie ein Gag wirkte, entpuppte sich im Laufe des Abends als sinnvolle Handreichung. Denn diese "Butterfly" rührt zu Tränen - nicht auf die sentimentale Tour, sondern als abgründiges Psychodrama zwischen Wahn und Wirklichkeit.

Die Inszenierung der jungen Regisseurin Nadja Loschky ist ebenso analytisch wie emotional. Befreit von Kitsch und Japan-Folklore, ist hier ein Seelendrama von Wucht und Konsequenz zu erleben. Mehr noch: Eine der meistgespielten Opern überhaupt ist neu zu entdecken. Das Publikum feierte Sänger, Philharmoniker und Regieteam gleichermaßen euphorisch und mit Ovationen im Stehen.

Loschkys Inszenierung ist als eine Reise in die Innenwelt der Butterfly angelegt. Ein kurzer Prolog zeigt sie einsam, wartend. Sie lässt Papierkraniche zu Boden fallen und singt ein Lied, das bald zur vielstimmigen Qual wird. In diesen ersten Minuten wird klar, dass diese Frau verstört und traumatisiert ist.

Mit dem Einsetzen von Puccinis Musik betritt sie den Raum ihrer Erinnerungen, ein formbares und unsicheres Terrain zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Plötzlich stehen zwei Cio-Cio-Sans auf der Bühne: Die Sängerin Soojin Moon ist die Frau, die sich erinnert. In ihrem Film im Kopf spielt die Schauspielerin Joy Maria Bai die junge Cio-Cio-San. Zweifel, ob die doppelte Butterfly funktioniert, verflüchtigen sich schnell.

Zumal Soojin Moon in die Szenen, die sie gemäß Regiekonzept ja selbst heraufbeschwört, eintaucht. Sie mischt mit, reagiert, kommentiert und tritt mit ihrem Alter Ego in einen spannungsreichen Dialog. Soojin Moon bleibt jedoch die unangefochtene Primadonna der Oper. Die Koreanerin, die in der vergangenen Spielzeit bereits als Tosca geglänzt hat, ist eine furchtlose Sängerin mit Präsenz, die mit ihrem kraftvollen, gerundeten Sopran ein immenses expressives Spektrum auslotet und diese Frau am Abgrund hinreißend radikal und intensiv zeichnet.

Flucht vor der fiesen Verwandtschaft

Doch auch Joy Maria Bai hat als stummes Cio-Cio-San-Double einen starken Auftritt. Überzeugend spielt sie die schüchterne, zerbrechliche 15-Jährige, die den amerikanischen Offizier Pinkerton (Daniel Pataky mit betörendem Belcanto-Schmelz) heiratet. Für ihn ist diese Ehe nur ein Witz. Sie dagegen träumt von Liebe, Geborgenheit und einem neuen Leben. Nicht zuletzt, um der fiesen Verwandtschaft zu entfliehen, die sie mit Gewalt in die Arme des Amerikaners zu treiben scheint. Sie ist umzingelt, alle setzen ihr zu: der schmierige Heiratsvermittler Goro (Tae Woon Jung) ebenso wie der übergriffige Onkel (Yun Geun Choi). Sogar der besorgte Konsul Sharpless (schneidend: Evgueniy Alexiev), der den gedankenlosen Pinkerton verachtet, drängt sich ihr auf.

Pinkerton schenkt ihr rote Pumps, ein brachiales erstes Mal und einen Sohn (Cornelius Schäfer). Dann ist er weg. Cio-Cio-San klammert sich an ihren Traum von Liebe und Freiheit und wartet. Um den Schmerz zu verdrängen, richtet sich ihre Aggression gegen sich selbst und ihre Dienerin Suzuki (stark: Melanie Forgeron).

Die Regisseurin hat Cio-Cio-Sans Geschichte des Leidens in klaren, beklemmenden, surrealen Bildern auf die Drehbühne gezaubert. Spannend sind die Reibungspunkte. Da singt Soojin Moon den größten Hit dieser Oper, die schwelgerische Arie "Un bel dì vedremo", in der sie sich ausmalt, wie Pinkerton zu ihr zurückkehrt. Parallel dazu ritzt sich die von Joy Maria Bai gespielte Cio-Cio-San mit der Schere die Arme. Es gibt einige Widerhaken in dieser doppelbödig angelegten Version. Am Ende weicht Butterfly vom "Drehbuch" ab, tötet erst ihren Sohn und als Konsequenz aus der Konfrontation mit der Vergangenheit sich selbst.

Das Bühnenbild (Christian Wiehle) ist ein schlichtes Halbrund mit Vorhängen. Japan wird dezent angedeutet: ein Baum in Cio-Cio-Sans Haus, von dem sie wütend die Papierkraniche als Symbol für Glück schneidet, schwarze Lackwände, Fächer für einen verzweifelten Schmetterlingstanz vor Männern mit Masken. Die Kostüme von Gabriele Jaenecke fügen sich perfekt in das reduzierte, visuelle Konzept ein.

Die Bielefelder Philharmoniker unter der Leitung von Alexander Kalajdzic sorgen mit ihrem sehnigen, kitschfreien und fiebrig intensiven Spiel für Gänsehautmomente.

Die nächsten Vorstellungen: 2., 12., 23., 26. Oktober, Kartentel. 05 21/55 54 44.