Vor den Augen der anderen

Zur Saisoneröffnung in Lausanne hat Arnaud Bernard Jules Massenets «Manon» mit einem besonderen Gespür für das Wechselspiel zwischen Öffentlichem und Privatem inszeniert.

Michelle Ziegler
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Die Aristokratie zelebriert sich in grossartiger Form – in Lausanne spielt «Manon» im achtzehnten Jahrhundert der Vorlage von Abbé Prévost. (Bild: Marc Vanappelghem / PD)

Die Aristokratie zelebriert sich in grossartiger Form – in Lausanne spielt «Manon» im achtzehnten Jahrhundert der Vorlage von Abbé Prévost. (Bild: Marc Vanappelghem / PD)

«Les voyageurs, les voyageuses, il faut tout voir!»: Die Bürgerinnen und Bürger in der Gastwirtschaft in Amiens, wo die Postkutsche mit Reisenden eintrifft, sehen alles und alle. «Pour nous c'est un devoir!», erklären sie sich. Gleich zu Beginn von Jules Massenets «Manon» bemerkt der Wirt, dass der Mensch von Natur aus «très observateur» sei. Hier, inmitten einer wachsamen Gesellschaft, trägt sich die Geschichte eines Liebespaares zu. Hier, vor den Augen einer Menschenmenge, die grausam oberflächliche Werte propagiert, erlebt das Paar seinen tragischen Niedergang. Hier kämpfen zwei Individuen vergeblich gegen die erstarrten Konventionen eines Kollektivs, in dem nur standesgemässe Verbindungen toleriert sind.

Öffentliches und Privates

Die Normen und die Verlockungen des gesellschaftlichen Lebens prägen den Fortgang der Ereignisse in Jules Massenets «Manon». Dies wird aus der Abfolge privater und öffentlicher Szenen klar. Massenets Librettisten Henri Meilhac und Philippe Gille lassen in ihrer Adaption des Romans von Abbé Prévost für die Opéra-Comique intime Szenen des Liebespaares auf Menschenaufläufe und Volksfeste folgen. Arnaud Bernard inszeniert dieses Wechselspiel zwischen Öffentlichem und Privatem in seiner neuen Umsetzung zum Saisonbeginn an der Opéra de Lausanne geschickt.

Bernard siedelt die Ereignisse in Abbé Prévosts achtzehntem Jahrhundert an, in einer Welt, in der die Aristokratie sich selbst in grossartigen Festen zelebriert, in der die Damen bauschige Röcke und tief ausgeschnittene Décolletés tragen, die Herren Perücken und Strümpfe (Kostüme: Carla Ricotti). Schatten von Menschen, einer neben dem anderen, begrenzen die von Alessandro Camera konzipierte Bühne. Bewegliche Wände trennen immer wieder Teile der Bühne ab und schaffen Räume für individuelle Begegnungen und intime Momente.

Die Sängerinnen und Sänger im Hintergrund erstarren von einem Moment zum nächsten in ihrer Bewegung. Die so erzeugten Standbilder, die an Fragonard und Watteau erinnern, ermöglichen einen Fokus auf die privaten Ereignisse. Gleichzeitig führen sie die Künstlichkeit der öffentlichen Szenen vor Augen. Wenn die Hektik und Bewegung einer Chorszene plötzlich zu einem statischen Bild gefriert, ergeben sich in den sorgfältig arrangierten Personengruppen schöne Details. Nur über die Länge der Oper in fünf Akten nutzt sich die Idee etwas ab.

Indem Bernard zum Orchestervorspiel das letzte Bild der Oper zeigt, antizipiert er den tragischen Verlauf der Geschichte. Die Vorzeichen sind gesetzt, wenn Anne-Catherine Gillet als Manon im ersten Akt mit der Postkutsche ankommt und ihre Aufregung über ihre erste Reise in «Je suis encore tout étourdie» zum Ausdruck bringt. Gillet hält sich hier in der emotionalen Ausgestaltung noch zurück, vermag mit fabelhafter Diktion und einem betörenden Timbre aber gleich zu überzeugen. Sie ist zum ersten Mal in dieser Rolle zu sehen und entwickelt diese im Verlauf des Abends. So lässt sie in die Seele einer vom lockenden Gold verzückten, einfachen jungen Frau blicken, die sich nicht gegen den Reichtum für die Liebe entscheiden kann. Gillet nimmt in «Adieu, notre petite table» bewegend von ihrem Leben mit Des Grieux Abschied, im dritten Akt trifft sie als würdige Gefeierte in einem Ballon auf der Cours-la-Reine ein, und zum Schluss lässt sie sich in den Armen Des Grieux' erschöpft zu Boden sinken.

Stimmungswechsel

An ihrer Seite hat Gillet in John Osborn einen Chevalier Des Grieux, der an der Premiere in der ersten Begegnung mit Manon noch etwas kühl wirkte. Mit sich selbst ringend vermochte er im dritten Akt in der Szene in Saint-Sulpice allerdings ungemein zu bewegen. Boris Grappe gab einen lebenslustigen Lescaut, Patrick Bolleire einen Comte Des Grieux von mächtiger Statur. Das Orchestre de Chambre de Lausanne unter Jesús López Cobos wirkte im Prélude etwas schwerfällig. In der Folge bildete es die schnellen Stimmungswechsel in der emotional ausdeutenden Partitur eindrücklich ab.