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Gärtnerplatztheater: Das läuft zur Spielzeit-Eröffnung

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Treffen sich auf hohem Niveau: Gerhard Siegel als Peter Grimes und Edith Haller als Ellen Orford.
Treffen sich auf hohem Niveau: Gerhard Siegel als Peter Grimes und Edith Haller als Ellen Orford. © Thomas Dashuber

München - Zur Spielzeit-Eröffnung des Gärtnerplatztheaters inszenierte Balázs Kovalik „Peter Grimes“ von Benjamin Britten. Gerhard Siegel singt und spielt den Titelhelden imponierend.

Zwei Hauptrollen, davon geht man für gewöhnlich aus. Eine dritte zählt mancher bei „Peter Grimes“ gern dazu: Es ist der Chor, die feindliche, verbohrte, intolerante Masse Mensch, ein Mob, der den Helden letztlich aufs tödliche Meer treibt.

Von der vierten Rolle allerdings raunt allein die Musik, mit Brandungsklängen so soghaft wie verführerisch: Es ist die Natur, etwas, das diesen Küstenbewohnern Leben bringen, sie aber auch verschlingen kann – und zugleich etwas, von dem es an diesem Abend nicht viel zu sehen gibt.

Ein Container, der Pub oder enge Kirche sein kann; zwei hereingeschwenkte Kranbrücken als Schiffe-Ersatz; ein riesiger, rund geraffter Plastikvorhang, bei dem man an Gefängnis, Regen oder Meer denkt: Versatzstücke sind das, mit denen Regisseur Balász Kovalik und Bühnenbildner Csaba Antal bei dieser neuen Gärtnerplatz-Produktion arbeiten.

Frachthafen? Probebühne? Surreales Arrangement? Wie zufällig kombiniert wirkt diese Szenerie, auf raffinierte Weise inkonkret. Das Offene, Angedeutete, die innerliche, auch äußerlich sichtbare Leere, und – das ist die große Stärke dieser Premiere im Prinzregententheater – all das erzielt bei Benjamin Brittens Seestück viel höhere Näherungswerte als sorgsam ausgepinselte Armuts- und Strandromantik.

Hohes sängerisches Niveau

Einfache Lösungen, simple Erklärungen – Britten plädiert, dies ist ja die Essenz des Stücks, fürs Gegenteil. Das (vor-)schnelle Urteil wird von einer bornierten Dorfgesellschaft gefällt, bei Peter Grimes kommt aber, so sein komponierender Verteidiger, vieles zusammen. Eine ständige Aggressionsbereitschaft, Beziehungsangst, auch Pädophilie, das alles deutet Regisseur Kovalik nur an, ohne es näher auszuführen. Was diese Aufführung so gut macht, ist gerade ihre Subtilität, ihre Uneindeutigkeit – und das handwerkliche Niveau, mit dem dies auf weit aufgerissener Bühne plausibel gemacht wird.

Am Ende steht nicht Tod, sondern Erlösung: Wenn Grimes mit dem Lehrbuben im kleinen Plastiksegler sitzt und in die Tiefe fährt, dann gemahnt das weniger ans brutale Ertrinken, sondern ans Finale von Wagners „Holländer“.

Gerhard Siegel singt und spielt den Titelhelden als einen Mann, für den Zorn und Wut die billigere Lösung sind als Einfühlung und Mitleid. Erst mit der Zeit wandelt sich das, nicht unbedingt durch die ihn liebende Ellen Orford, eher aus eigener, verzweifelter Erkenntnis. Dass bei Siegel lyrische Passagen zuweilen gequetscht klingen, wie abgerungen, kommt der Gestaltung sogar zugute. Für die heftigen Vokalgebärden, die Forteattacke ist dieser Tenor mit seinem wetterfesten Material ohnehin die passgenaue Besetzung – ein imponierendes Rollendebüt.

Überhaupt erstaunt (wieder einmal) bei einer Gärtnerplatzproduktion das hohe sängerische Niveau. Edith Haller hat für Ellen Orford viele zu Herzen gehende Seelentöne parat, kann aber ihren hervorragend kontrollierten Sopran auch öffnen für große, dramatische Gebärden. Zu spüren ist, dass diese Figur mehr ist als nur sich hingebende Frau, sondern Grimes’ einzige Chance – seine letzte und verpasste. Ashley Holland, auch das eine kleine Pointe dieser Produktion, ist als Captain Balstrode leicht querbesetzt. Keinen Bass-Poltergeist erlebt man da, sondern einen eher zurückhaltenden, alles ahnenden Mann, dessen kernige, wohlgerundete Stimme ihn zum Wahlverwandten Ellens macht.

Auch von fast allen anderen ließe sich nur schwärmen, von István Kovács als Swallow zum Beispiel, von Holger Ohlmann als Ned Keene, von Rafael Schütz, der den stummen Lehrbuben so berührend spielt, besonders aber vom mächtig auftrumpfenden Chor (Einstudierung: Jörn Hinnerk Andresen). Balász Kovalik ordnet ihn zwar meist als choreografierte Masse, als wie ritualhaft agierender Karikaturenhaufen – und doch werden Einzelfiguren fass- und erlebbar. Irgendwo in den Sechzigern muss dieses Drama spielen, die Turmfrisuren der Damen deuten darauf hin. In einer Zeit, als vieles ging, als zwar, wie hier zu sehen, schwüle Partys gefeiert wurden, aber Toleranz trotzdem Glückssache war.

Marco Comin und das Gärtnerplatz-Orchester trumpfen mächtig auf. Das Grelle, Offensive, Harte von Brittens Partitur interessiert den Chefdirigenten, auch das Brillante, weniger das Süffige, die dankbare Spätromantik. Nicht alles ist dabei mit unanfechtbarer Präzision musiziert, es gibt Wackelkontakte, was aber so gut wie nicht ins Gewicht fällt. Zu spüren ist jedenfalls, wie gut es dem Ensemble tut, solch große Partituren in dafür angemessenen Häusern zu stemmen. Ausgerechnet auf seiner Wanderschaft, ins Exil gezwungen durch die Sanierung des Stammhauses, hat das Gärtnerplatz-Team gerade den besten Lauf seit Jahren. Ein Paradox – fast wünscht man sich, der Ausnahmezustand möge noch eine Zeitlang andauern.

Weitere Aufführungen

23., 27., 29., 31. Oktober sowie am 2. November; Telefon 089/ 2185-1960.

Markus Thiel

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