Tolstoi-Oper in Bremen

Die Sehnsucht nach dem Glück

Der Theaterregisseur Armin Petras
Der Theaterregisseur Armin Petras © dpa / picture alliance
Von Alexander Kohlmann · 25.10.2014
Armin Petras ist in Bremen ein Kunststück gelungen: Für seine Opernfassung reduziert er Tolstois "Anna Karenina" auf einen überschaubaren Theaterabend - und erhält dabei doch das ganze Kaleidoskop von gleich drei Liebesgeschichten.
"Anna Karenina", das ist einer der meist adaptierten Romane der Literaturgeschichte. Fast alle Verfilmungen, Opern und Theaterstücke setzten dabei auf eine radikale Vereinfachung, nicht selten reduzierten sie Tolstois Riesen-Roman auf ein Melodram, die Geschichte vom Ehebruch der schönen Anna mit dem Verführer Wronski in einer Gesellschaft, die derartige Verfehlungen mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft bestraft.
Nicht so die Theaterfassung von Armin Petras, die bewusst das ganze Kaleidoskop von gleich drei Liebesgeschichten erhält, an denen Tolstoi nicht weniger als das Streben der Menschen nach dem Glück exerzierte - der Mann wusste aus eigener Erfahrung, wovon er schrieb. Petras gelang das Kunststück, die Tolstoische Prosa auf einen in überschaubarer Zeit rezipierbaren Theaterabend zu reduzieren, in dem er gar nicht erst versuchte, die Geschichten nachzuerzählen, sondern Schlüsselmomente der melodramatischen Handlungen mit schnell erzählten Passagen verwebte - er erzählt damit tatsächlich den ganzen Anna-Karenina-Stoff, nimmt sich aber die Freiheit, Landschaftsbeschreibungen und politische Reflexionen zu streichen - und immer wieder hunderte von Seiten von einem Chor in einem Nebensatz erzählen zu lassen, um dann wieder einen besonderen Moment ganz nah ranzuholen - und sogar noch auszudehnen.
Schwarz-weiße Stummfilm-Patina
Die Verwandlung des Petras-Librettos in eine Opern-Partitur durch Thomas Kürstner und Sebastian Vogel fügt in Bremen diesem ohnehin schon unwahrscheinlich dichtem Textgeflecht noch eine musikalische Ebene hinzu - die individuelle Suche nach dem Glück, sie findet jetzt auch noch Ausdruck in einem Klangteppich, der geschickt unterschiedliche musikalische Stilrichtungen miteinander verwebt, so unterschiedlich wie die Emotionen und Sehnsüchte der drei Paarungen, die jeder für sich ein Konzept darstellen, das Leben und die Liebe zu meistern.
Die Regie von Armin Petras fügt dieser komplexen Grundaufstellung noch eine weitere Ebene hinzu. Petras hat auf der Bühne eine große, hölzerne Leinwand aufbauen lassen. Es kann davor und dahinter gespielt werde. Was hinten passiert und durch die Leinwand-Stützen aus dem Zuschauerraum noch grob erkennbar ist, wird aber nicht einfach eins zu eins übertragen, sondern verändert - ganz so wie auch unser Gedächtnis Erinnerungen bearbeitet und stetig verändert, neu sortiert und bearbeitet. Auf der Leinwand sind so ganz am Anfang Szenen von Annas erstem Zusammentreffen mit Wronski auf dem Ball zu sehen, in einer schwarz-weißen Stummfilm-Patina, die verdächtig an eine der kitschigen, melodramatischen Anna-Karenina-Verfilmungen aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erinnert.
Weit weg erscheinen diese Figuren mit ihren Sehnsüchten, die dann aber im Verlauf des Abends einen erstaunlichen Verjüngungsprozess durchmachen. Sowohl in den Kostümen, als auch den Filmbildern rast Petras mit Tolstois Figuren durch die Zeiten, bis der grüne Weltverbesserer Lewin, ein Öko mit langen Haaren, mit der Gitarre vor einem Atomkraftwerk für sein ganz in pink gekleidetes Girlie Kitty Hippie-Lieder spielt, bevor der notorische Ehebrecher Oblonski diesem alternativen Sing-Sang ein Ende bereitet.
Es braucht nicht viel, um unglücklich zu sein
Und Anna und Wronski - die brauchen in dieser Fassung keine repressive Gesellschaft, um unglücklich zu sein: Wie ein Künstler lässt er sie an einer Stelle posieren, als eine alte Frau die Bühne betritt, es ist die alte Anna, die beiden kurz vor Augen führt, wie sehr auf Äußerlichkeiten diese Liebe im Kern gebaut ist.
Das dämmert kurz vor Annas Selbstmord auch Karenin, der Anna offenbart, dass er Angst hat sie nie ganz besitzen zu können - jedenfalls nicht dieses Trug-Bild einer Liebe, das jenseits der Leidenschaft wenig Substanz besitzt: fast immer, wenn Petras ein Schlaglicht auf dieses Paar wirft, ist es auf reisen - beide sind ganz offensichtlich auf der Flucht - vor dem ruhigen Sofa, vor dem Blick aus der biederen Mietskaserne, deren Fenster immer wieder ganz groß auf der Leinwand zu sehen ist.
Das Ende vor dem Zug kommt dann doch ein wenig plötzlich als große Oper daher, denn bei Tolstoi endet der Roman nicht mit dem Selbstmord, sondern mit Lewin und Kitty - zwei Charakteren wie sie unterschiedlicher nicht sein können - und die sich dennoch gefunden haben. Auch dieses Paar löst Petras aus der zeitlichen Verortung und zeigt es als zeitlose Glückskonstellation, die für den Augenblick zu funktionieren scheint - und gerade in ihrer musikalischen Unaufgeregtheit gute Chancen auf eben jene lebenslange Zweierbeziehung hat, die zu den größten Glücksversprechen unserer heutigen Gesellschaft zählt.
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