Unterdrückung aus Ohnmacht

Die auf Gesellschaftliches zielende Handschrift des Regisseurs Calixto Bieito, der Verdi-erprobte Dirigent Gabriel Feltz und der brillante Jago von Simon Neal prägen Verdis «Otello» im Theater Basel.

Thomas Schacher
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Drastisch und zugespitzt: Kristian Benedikt (Otello) und Simon Neal (Jago) im Theater Basel. (Bild: Hans Jörg Michel)

Drastisch und zugespitzt: Kristian Benedikt (Otello) und Simon Neal (Jago) im Theater Basel. (Bild: Hans Jörg Michel)

Nach «Aida» wollte Verdi eigentlich keine Opern mehr schreiben. Erst die Begegnung mit Arrigo Boito und seinem Libretto nach Shakespeares «Othello» erweckte das Interesse des Komponisten wieder neu. Und so erlebte schliesslich, sechzehn Jahre nach «Aida», Verdis «Otello» in Mailand das Licht der Welt. In seinem letzten Beitrag zum Musiktheater ist Verdi den Weg von der Nummernoper zur musikdramatischen Grossform konsequent weitergegangen: Die einzelnen Abschnitte gehen nahtlos ineinander über, und das Orchester besitzt ein bis dahin nicht gekanntes Eigengewicht. Vor allem aber hat Verdi mit Otello, Desdemona und Jago drei unvergleichliche musikdramatische Charaktere geschaffen. Eine heutige Aufführung der Oper braucht folglich in erster Linie drei grossartige Sängerpersönlichkeiten, einen Dirigenten, der die Balance zwischen dem vokalen und dem instrumentalen Geschehen findet, und ein gutes Orchester.

Gefälle bei den Solisten

Die neue Produktion von «Otello» im Theater Basel hat diese Erfordernisse bei der Premiere weitgehend erfüllt. Insbesondere der Jago von Simon Neal trifft ins Schwarze. Als heimliche Hauptfigur – Verdi wollte die Oper ursprünglich «Jago» nennen – spinnt er alle Fäden der Intrige und spritzt das Gift der Eifersucht auf mannigfaltige Weise in Otellos Seele. Dabei ist Jago nicht einfach der dumpfe Bösewicht, sondern ein äusserst schlauer Fuchs. Für seine Zwecke steht ihm ein Bariton mit einem unglaublichen Reichtum an Schattierungen zur Verfügung. Diese Bandbreite fehlt dem Otello von Kristian Benedikt, dem ersten der drei Rollenträger der Produktion. Sein durchaus heldenhafter Tenor klingt gelegentlich etwas gepresst und eindimensional. Aber dies passt im Grunde nicht schlecht zum Rollenverständnis eines Titelhelden, der durch eine gedrungene Gestalt, psychische Defizite und Minderwertigkeitskomplexe gekennzeichnet ist. Beim ersten Liebesduett starrt Otello in den Zuschauerraum und vermeidet jede Berührung seiner Gattin. Die Desdemona von Svetlana Ignatovich mit ihrem hellen Sopran und ihrer jugendlichen Ausstrahlung eignet sich bestens für die unschuldige Gattin. Für den Schlussakt mit dem Lied von der Weide und dem «Ave Maria» fehlt ihr aber die Reife, um die Tragik der Rolle darstellen zu können.

Dass der Schluss emotional nicht richtig zu berühren vermag, liegt auch an der Inszenierung von Calixto Bieito. Als Hauptrequisit hat er, zusammen mit der Bühnenbildnerin Susanne Gschwender, einen schwenkbaren Baukran konstruiert, der die Handlung in eine Werft verlegt. In der Schlussszene liegt die erdrosselte Desdemona auf dem unteren Boden des Krans, während Otello, inzwischen über die Grundlosigkeit seiner Eifersucht aufgeklärt, seine Abschiedsworte «Un altro bacio» zuäusserst auf dem Dreharm des Krans, mit Blick in den Zuschauerraum, singt. Auch hier keine Nähe, keine Berührung. In anderen Szenen wiederum, beispielsweise beim Auftritt des venezianischen Gesandten, ist die Personenführung sehr realistisch und brutal.

In der Spanne zwischen Stilisierung und Konkretisierung liegt der interpretatorische Ansatz Bieitos. Ein Held, der derart an emotionalen Defiziten leidet, wird unweigerlich zum Despoten. So zeigen der Regisseur und sein Kostümbildner Ingo Krügler die Protagonisten als eine chic gekleidete Oberschicht, in der Gewalt und Unterdrückung herrschen. Dafür steht auch die Emilia von Rita Ahonen, eine Mitläuferin, die ebenso zum Opfer wird. Wirklich geknechtet wird aber das Volk, das nicht als Seeleute und venezianische Edle auf Zypern, sondern als Masse der Unterschicht erscheint. In der Eröffnungsszene jubeln diese Leute Otello mit gefesselten Händen zu und sind von ihm und seinem Tross durch einen Stacheldrahtverhau getrennt. Die auf Verbindung von Privatem und Gesellschaftlichem zielende Handschrift Bieitos ist unverkennbar, hat in diesem Fall jedoch den Beigeschmack des Aufgeklebten.

Spannung durch das Orchester

Der Dirigent Gabriel Feltz, der vor vier Jahren die aufsehenerregende Basler «Aida am Rhein» dirigiert hat, leitet die Solisten, den Chor des Theaters Basel und das Sinfonieorchester Basel mit grossem Gespür für wirkungsvolle Spannungsabläufe. Der sinfonischen Dimension der Partitur gibt er grossen Raum, was gleich in der eröffnenden Sturmszene eindrücklich vorgeführt wird. Auch die sinnlichen Elemente gehen oft vom Orchester aus, in der schon erwähnten Liebesszene des ersten Aktes ist es zu hören. Sehr gut hat der Dirigent die gefürchtete Ensemble-Szene am Schluss des dritten Akts im Griff. Da hat Otello Desdemona vor den Augen des venezianischen Gesandten (Pavel Kudinov) zu Boden geschleudert, und nun reagiert jeder Beteiligte auf seine Weise, das Volk tut sein Entsetzen kund, und mittendrin stiftet Jago den in Desdemona verliebten Rodrigo (Karl-Heinz Brandt) an, den Hauptmann Cassio (Markus Nykänen) zu ermorden. Und diesen Dialog hört man tatsächlich.