Im Marguerre-Saal des Heidelberger Stadttheaters gibt der Vorhang den Blick frei auf einen schäbigen Tanzsaal mit einer Ballettstange, ein paar Scheinwerfern und einem schmuddeligen Sofa. An einer der schmutzigen Wände hängt ein Plakat mit dem Aufruf zur Audition für das Ballett Schwanensee. Inmitten dieser Tristesse kauert eine Figur, die zur falschen Zeit am falschen Ort und im falschen Körper zu sein scheint. Bekleidet mit Trainingshose und gold-glitzernden Plateauschuhen, das traurige Gesicht völlig überschminkt (ist es Bühnenmaske oder der Look einer Dragqueen?), streift Golaud orientierungslos durch den „Wald“, der in Lorenzo Fioronis Heidelberger Inszenierung von Claude Debussys einziger Oper Pelléas et Mélisande zum Ort für beginnende und gescheiterte Tänzerkarrieren erklärt wird. Dass Golaud zur zweiten Kategorie gehört, wird schnell klar.

Debussys musikalische Adaption des gleichnamigen symbolistischen Schauspiels von Maurice Maeterlinck konzentriert sich auf eine schicksalhafte Dreierkonstellation: Der vor Eifersucht kranke Golaud begeht Brudermord, weil sich seine junge Frau Mélisande und sein Bruder Pelléas ineinander verlieben. Die Sprachlosigkeit von Maeterlincks Figuren gipfelt im verzweifelten Versuch Golauds, von Mélisande den Grund für ihren Ehebruch zu erfahren, Mélisande jedoch bleibt ihm die Antwort schuldig, weil sie kurz darauf an den Folgen ihrer von Golaud beigebrachten Verletzungen stirbt.

Maeterlincks Figuren sind nicht fähig, wirklich miteinander in den Dialog zu treten. Genau deshalb konnte das Manko des Opernabends, der krankheitsbedingte Ausfall von Ipča Ramanović (Golaud), im Laufe der Vorstellung zu einem Regie-Kunstgriff umgemünzt werden. Um die Vorstellung nicht absagen zu müssen, entschied man sich, den für Ramanović einspringenden Sänger Dong Hwan Lee die Partie des Golaud von der Seite singen zu lassen. Auf der Bühne verlieh Regieassistent Milo Pablo Momm der Rolle pantomimisch eine beinahe beängstigende Intensität. Das Verstummen hätte nicht eindrucksvoller gezeigt werden können.

Auch die anderen Figuren dieses traumhaften, psychologisch vielschichtigen Plots werden in Fioronis Ballettszenario als kranke Geschöpfe entlarvt, die sich in der glitzernden Schwanensee-Welt verlieren. Die etwas biedere und überehrgeizige Elevin Mélisande kommt zum Vortanzen mit einem Revolver in der Trainingstasche und wird von einem „Trio infernale“ kritisch begutachtet. Annika Sophie Ritlewski zeigte sich dabei flexibel und wandelbar und sang sowohl mit silbernem Glanz in der Höhe als auch mit warmen, bisweilen dramatischen Akzenten in der tiefen Mittellage.

Großvater Arkel gibt den schmierigen alten Regisseur und kommt in Begleitung eines Plüsch-Schwans. Er will doch nur kuscheln, möchte man meinen, doch Arkel entpuppt sich als hinterhältiger Voyeur, der Mélisande mit dem Fotoapparat nachstellt. Wilfried Stabers sonorer Bass beeindruckte in dieser Rolle, an mancher Stelle allerdings wäre mir etwas mehr Zurückhaltung zur Anlage seiner Figur als lächerlicher Greis passender erschienen. Der Schein trügt auch bei Mutter Geneviève, die sich als perfekt frisierte und geschminkte Ballettprofessorin inszeniert, jedoch ebenfalls vom Verfall eingeholt wird und sich mit der Hilfe von alten Dias zurück in die ach so schöne Vergangenheit träumt. Mit der Idylle aber ist es nicht weit her. Den traurigen Pelléas (Angus Wood), Solotänzer und Schönling, umgibt die ständige Ahnung der Katastrophe: Sein Blumengruß für Mélisande wird mit einem Foto von Beerdigungsblumen aus Genevièves Diasammlung kommentiert.

Überall lauern Tod und Verderben, doch die Figuren bewegen sich hilflos in ihrer mühsam konstruierten Fassade, die sie sich um die Kunstwelt des Balletts herum errichtet haben. Die Doppelbödigkeit und Unvereinbarkeit zwischen Sehnsüchten und Lebenswirklichkeit tritt durch die psychologisch subtile Inszenierung im Laufe der Vorstellung immer deutlicher hervor. Die seelischen Abgründe und Ängste der Protagonisten wurden eindrucksvoll durch die verspiegelten, die Perspektive verzerrenden Räume (Bühnenbild: Ralf Käselau) visualisiert. Eine der stärksten Szenen war der Tanz der drei Elenden im zweiten Akt (Choreographie: Pascale-Sabine Chevroton), die Kostümbildnerin Annette Braun als greise Schwäne zusammen mit Golaud auf die Bühne schickt. Es ist ein tanzendes Gruselkabinett, als wären sie aus einem Gemälde von Otto Dix entsprungen. Es ist auch ein Tanz der Todgeweihten und Todbringenden, denn an Golauds Tutu klebt Blut. Der Assoziation mit Darren Aronofskys Psychothriller Black Swan kann man sich dabei nicht entziehen.

Die starken Bilder korrespondierten mit einem fast durchweg sicher spielenden Orchester, das an diesem Abend von Gad Kadosh geleitet wurde. Die musikalische Transparenz der Partitur konnte schön in einem schlanken Klangbild herausgearbeitet werden, nichts tönte hier zu wuchtig oder überladen. Auch das Zusammenspiel mit den Sängern war dynamisch sehr gut austariert, allerdings geriet so manche Bläserstelle etwas wackelig. Der Zauber von Debussys entrücktem Klangschimmer konnte jedoch nicht immer zünden, dazu hätte man sich eine feinere Abstimmung der Instrumentengruppen untereinander und mehr Facetten in der orchestralen Klangfarbenpalette gewünscht.

Die für diese Oper sehr spezielle, dem Sprachduktus angepasste Behandlung der Singstimme erfordert ein behutsames, natürliches Singen ohne dramatisch-eruptive Ausbrüche. Dabei orientiert sich die musikalische Deklamation sehr genau an der Deklamation des Textes, also an Sprachrhythmus, Wortakzenten und an den inhaltlich bedeutsamen Stellen des Gesagten. Die vokale Dramaturgie Debussys verlangt eine subtile Nuancierung vom musikalischen Sprechen bis hin zum ariosen Gesang, was das Heidelberger Sängerensemble klug und präzise umsetzen konnte.

Wenn auch nur mit kleineren Gesangspartien bedacht, agierten Carolyn Frank (Geneviève), Stella Rembalski als Golauds verängstigter Sohn Yniold und David Otto (Arzt) schauspielerisch absolut überzeugend. Annika Sophie Ritlewski tönte ihre Stimme gegen Ende der Oper insgesamt dunkler und demonistrierte so die Entwicklung ihrer Figur vom naiv-fröhlichen Ballettmädchen zur todkranken und emotional gebrochenen Frau auch stimmlich mit beeindruckender Intensität. Die geschmeidige Melodieführung und Phrasierung von Debussys Parlando gelang Tenor Angus Wood als Pelléas über weite Strecken am besten. Legato-Phrasierung und Textverständlichkeit waren bei ihm fein ausbalanciert und wirkten sehr natürlich, doch auch Dong Hwan Lee war durch seine Position keineswegs eingeschränkt. Er verlieh seinem Golaud düstere und unheimliche Akzente und ließ durch seine enorme Präsenz vergessen, dass er an diesem Abend „nur“ eingesprungen war.

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