Puccinis Tosca ist voller Verweisen auf reale Schauplätze, historische Ereignisse und Personen; eine neue Sichtweise auf die Bühne zu bringen ist eine Herausforderung – vor allem dann, wenn dem Regisseur daran gelegen ist, die Handlung nicht grundlegend zu verändern. Dass die Gratwanderung zwischen Werktreue und eigener Vision gelingen kann, beweist nun die Inszenierung von Alexander Schulin in der Oper Graz.

„Bei aller Perfektion des Stückes, bei allem nachvollziehbaren Realismus der ersten beiden Akte fiel es mir immer schwer, diesen dritten Akt als glaubwürdig zu empfinden,“ begründet Schulin seine Inszenierung, die nach einem klassischen ersten und zweiten Akt stark ins Surreale abdriftet. In wunderschönen historischen Kostümen von Bettina Walter beginnt diese Tosca ganz traditionell in einer opulenten, goldenen Kirche, der zweite Akt spielt sich in Scarpias schmucklosem Büro ab, das durch seine Beengtheit die Ausweglosigkeit der Handelnden verdeutlicht. Zweiter und dritter Akt gehen bei Schulin dann aber nahtlos ineinander über. Nachdem Tosca Scarpia erstochen hat, beginnt sich Scarpias Büro zu öffnen und verschmilzt mit dem Bühnenbild der Kirche, auf dessen Hintergrund den ganzen dritten Akt hindurch die fallende Tosca in Zeitlupe projiziert wird.

Von diesem Moment an scheint man eher Toscas Wunsch- oder Wahnvorstellung zu beobachten, etwa am Ende des zweiten Aktes, als Cavaradossi erschossen wird, dann aber wieder aufsteht und rückwärts gehend die Bühne verlässt. Der Hirte erscheint in weiterer Folge als eine Art Vision von Toscas jüngerem Selbst, und die folgenden Ereignisse scheinen sich nicht linear abzuspielen, an deren Ende Tosca von Scarpias Schreibtisch ins Nichts springt, nachdem der von ihr begangene Mord entdeckt wurde. Unklar bleibt, ob die Geschehnisse auf der Engelsburg sich beim Fallen nochmals vor Toscas Augen abspielen, oder ob es sich nur um ihre Wunschvorstellung handelt, als sie traumatisiert in Scarpias Büro bleibt. Auf jeden Fall bietet Alexander Schulin damit einen reichlich unkonventionellen, aber interessanten Schluss, der viel Raum für Interpretation lässt.

Die musikalische Leitung lag in den Händen von Chefdirigent Dirk Kaftan, der das Grazer Philharmonische Orchester einmal mehr zu Höchstleistungen anspornte. Mit einem großen Reichtum an Klangfarben und Emotion sowie dynamischen Schattierungen lieferte das Orchester eine Sternstunde, wobei besonders die herrlich klagenden Passagen der Bratschen im dritten Akt Erwähnung finden müssen. Kaftans Lesart der Partitur legte unheimlich viele Facetten von Puccinis Meisterwerk frei, die sonst oft untergehen, etwa einige fein gesponnene Piani im zweiten Akt. Andererseits packte er in den dramatischen Momenten auch ordentlich zu und entlockte seinem Orchester kraftvolle Fortissimi. Diese gingen jedoch nie auf Kosten der Sänger, und Kaftan stellte stets eine ausgewogene Abstimmung zwischen Bühne und Orchestergraben sicher.

In den kleineren Rollen konnten besonders Umut Tingür als Angelotti mit sicher geführtem Bass und David McShane als stimmlich sicherer und darstellerisch unterhaltsamer Mesner hervorstechen. Auch die übrigen Rollen waren durchwegs adäquat besetzt, so durften Martin Fournier als Spoletta und Konstantin Sfiris als Sciarrone und Schließer vor Scarpia zittern und Tatjana Miyus als Hirt mit glockenheller Stimme in Toscas Wahnvorstellung auftauchen.

Als Floria Tosca selbst gelangen Andrea Danková mit ihrem warmen Sopran die lyrischen Stellen der Partie hervorragend, während ich mir stellenweise etwas mehr dramatische Attacke, besonders in den Szenen mit Scarpia – gewünscht hätte. Ihre stärksten Momente hatte sie im ersten Akt, in dem sie mit feinen Piani und ebenso klangschönen wie sicher platzierten Spitzentönen die Szene in der Kirche beherrschte und auch im Spiel mit glaubwürdiger Diven-Attitüde überzeugen konnte. Gaston Rivero stellte seinen Cavaradossi weniger als Edelmann, sondern eher als rebellischen Künstler dar, sowohl darstellerisch als auch stimmlich. Kraftvoll und leidenschaftlich gestaltete er die Rolle sehr differenziert – seinen Liebesbeteuerungen im ersten Akt haftete etwa viel lyrischer Schmelz an, während das Aufbegehren gegen Scarpia enorm kraftvoll war. In den tieferen Lagen geriet sein Klang öfters etwas gaumig, doch besonderes in den Höhen schien sich seine dunkel timbrierte Stimme wohlzufühlen.

James Rutherfords Scarpia bestach von der ersten Sekunde an durch beeindruckende Bühnenpräsenz, die sich im Laufe der Vorstellung sogar noch steigerte. Stimmlich und darstellerisch bekam man nicht einfach nur einen aggressiven Wüstling zu sehen, sondern einen ziemlich fiesen, aber durchaus charmanten Adeligen. Rutherford polterte nicht einfach darauf los, sondern zeigte mit seinem sonoren Bariton eine große dynamische Bandbreite und elegante Phrasierungen. Besonders in den gemeinsamen Szenen mit Tosca konnte er einige herrliche Piani platzieren, die im Kontext von Scarpias Vorhaben schon richtiggehend zynisch wirkten.

Ein Besuch dieser Tosca lohnt sich, bietet doch die Inszenierung eine interessante Sichtweise und das Orchester unter Dirk Kaftan eine packende musikalische Interpretation, die in Kombination mit sehr guten gesanglichen Leistungen für eine definitiv hörenswerte Vorstellung sorgt.

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