Moderne Tragik

Selten wird Charpentiers «Médée» gezeigt. Und dies, obwohl die Oper von 1663 den Medea-Mythos feinfühlig auslegt. Die Aufführung in Basel bietet eine fesselnde Begegnung mit dem Stück.

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Michelle Ziegler ⋅ Medea ist eine von der Eifersucht vergiftete Verrückte: So schildern viele Stränge der weitverzweigten Interpretationsgeschichte die Frauenfigur des Mythos. Bei Euripides ist es anders. Er sucht den Fortgang bis hin zur unbeschreiblichen Tat des Kindermords aus der Marter einer Hintergangenen heraus zu begründen, die schliesslich keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sich mit einer Verzweiflungstat aus ihrer Qual zu befreien. Medea ist bei Euripides nicht allein vom Gefühl getrieben, sie handelt bewusst und sorgsam abwägend. Noch einen Schritt weiter ging Thomas Corneille in seinem Libretto für Marc-Antoine Charpentiers Oper «Médée» aus dem Jahr 1693, indem er sich dezidiert auf die Seite Medeas stellte. Bei ihm durchläuft Medea verschiedene Stadien der Verarbeitung von Jasons Treuebruch. Sie sucht zunächst nach Beweisen für den Sachverhalt, hinterfragt das Heldenmodell, das sie des Königsmords bezichtigt und gesellschaftlich isoliert, und ist zwischen Selbstmitleid und Rache hin und her gerissen. Damit – und in der Verbindung mit der psychologisch deutenden Musik Charpentiers – wird sie zu einer modernen tragischen Heldin. Zu Unrecht, so der Eindruck nach der Schweizer Erstaufführung im Theater Basel, ist Charpentiers «Médée» selten zu sehen.

Bereits in der ersten Szene, in der Jason und Médée alleine sind, treten die unterschiedlichen Temperamente und Befindlichkeiten zutage. Jason beschwichtigt seine Gattin, indem er sich vor sie setzt und ihr Bein sanft streicht. Médée dagegen, von Zweifeln gepeinigt, stürzt sich kurzerhand leidenschaftlich auf ihn. Dass sich das Paar in der Folge auseinanderlebt und dies den Kummer Médées wiederum verstärkt, stellten Anders J. Dahlin und Magdalena Kožená an der Premiere beeindruckend dar. Wie auch die weitere Entwicklung der Tragödie: Kožená vermochte jedem Entwicklungsstadium der Figur eine eigene Intensität zu verleihen. Gerade in den vielschichtigen Monologen des dritten Aktes steigerte sie die Spannung auch mit den Mitteln ihres in verschiedenen Repertoires geschulten und warmen Mezzosoprans.

Um das tragische Ende abzuwenden, versucht Médée ihre unterschiedlichen Gegner umzustimmen: Den mächtigen König Créon (Luca Tittoto) lässt sie ihre Zauberkraft am eigenen Leib spüren, dessen zierliche Tochter Créuse (Meike Hartmann) und den Prinzen Oronte (Robin Adams) versucht sie im Gespräch umzustimmen. Nichts hilft. Die Spannung des unabwendbaren Ausgangs nimmt im dritten Akt auch musikalisch zu. Das setzen Andrea Marcon und das Basler Barockorchester La Cetra fabelhaft um. Anhand der von Charpentier bewusst gesetzten Orchesterfarben und der Angaben zu Tempo und Dynamik entwickeln sie eine eindrückliche Palette an psychologischen Ausdeutungen, was ihnen bereits beim Eintreten des musikalischen Leiters nach der Pause einen stürmischen Applaus einbrachte.

Marcons differenzierte Auslegung deckt sich mit der geschickt ausbalancierten Interpretation des Regisseurs Nicolas Brieger, der die politische Ebene des Librettos nicht vernachlässigt. Die Machtverhältnisse sind klar: Die Bühne von Raimund Bauer ist unterteilt in die oberen Geschosse, die von Créon und seiner Tochter bewohnt werden, und die unteren, in denen Médée untergebracht ist. Für Zauber ist in der Verschwörungsszene mit zuckenden Hexen gesorgt, für Unterhaltung in einer Nightshow, die Oronte als Beleg seiner Liebe für Créuse organisiert. Brieger gelingt es, Medea als mächtige Zauberin darzustellen. Gleichzeitig lässt er in einer um den Prolog und einige Szenen gekürzten Fassung der Tragédie lyrique Raum für die Selbstbefragung der Figur. Dadurch vermag diese Medea als tragische Heldin ungemein zu fesseln.