War es ein Traum? Oder doch Realität? Drei verschiedene Frauen oder nur die Facetten einer einzigen? Und was hat Marilyn Monroe damit zu tun? Basierend auf dem symbolistischen Roman Das tote Brügge verschwimmt in der Oper Die tote Stadt von Erich Wolfgang Korngold schon im Libretto die Grenze zwischen Wirklichkeit und Wahn; Regisseur Johannes Erath hakt genau an dieser Stelle ein und bringt eine intelligente Inszenierung auf die Bühne der Grazer Oper, die, anstatt Fragen zu beantworten, stets neue aufwirft.

Johannes Erath deutet die Geschichte rund um Paul, der zwischen einem toten Ideal und einer lebendigen Verführung hin- und hergerissen ist, zutiefst psychoanalytisch. So verschwimmt die reale Ehefrau Brigitta, die laut Libretto eigentlich die Haushälterin ist, mit den beiden anderen Frauengestalten, Marie und Marietta. Brigitta und Marietta singen beispielsweise die ersten paar Takte von „Glück, das mir verblieb“ gemeinsam, beide Frauen tragen das selbe Kleid, und sobald von der toten Marie die Rede ist, richtet sich der Blick aller Handelnden oft auf Brigitta, anstatt auf das Bild der Verstorbenen.

Ähnlich komplex legt Erath den Zusammenhang zwischen Paul, seinem Freund Frank und der Illusion Fritz an, die sich in ihren Handlungen immer wieder spiegeln und so auch hier die Grenzen zwischen den Figuren aufweichen. Hinzu kommen noch etliche stumme Doppelgänger der fünf Figuren, und die Gauklertruppe, mit der Marietta in der Stadt ist, wirkt wie aus einem (Alb-)Traum entsprungen, besteht sie doch aus Nosferatu, einem Clown, einer Tänzerin, die aus einer Spieluhr zu stammen scheint, und Marilyn Monroe. Am Ende verschwinden Pauls Visionen, er und Brigitta bleiben alleine zurück, und mit ihnen die Frage, was hier eigentlich passiert ist. Das morbide anmutende Bühnenbild von Herbert Murauer, der auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, bestehend aus einer übergroßen, dunklen Treppe und einem karg eingerichteten Raum, erwies sich für diese Interpretation als äußert wirkungsvoll und erinnerte stark an einen alten Hollywoodfilm. Ebenso beeindruckend auch die Lichtregie von Joachim Klein, der die Seelenzustände der Protagonisten mit Lichtstimmungen verstärkte.

Am Pult des Grazer Philharmonischen Orchesters schwelgte Dirk Kaftan in den üppigen Klangwogen der Partitur, kostete die dynamische Bandbreite dabei voll aus und spornte seine Musiker zu schwebenden Piani und kraftvollen Crescendi an. Präzise gelangen die Wechsel zwischen farbenreich-melancholischer Romantik und drängender, emotional expressiver Moderne. Besonders die Streicher woben den ganzen Abend über einen wunderschönen Klangteppich, ohne dem Kitsch zu verfallen, und die sich bis in die Proszeniumslogen ausbreitenden Blechbläser sowie das Schlagwerk setzten enorm präzise Akzente im Forte.

Zoltán Nyári sang Paul mit kühl timbriertem, äußerst durchschlagskräftigem Tenor. Die Höhen gerieten durchwegs sicher, die schönsten Bögen gelangen ihm aber in der Mittellage, in der sich seine Stimme am wohlsten zu fühlen schien. Auch die Darstellung der Ambivalenz der Figur vermittelte er nicht nur darstellerisch eindrucksvoll: einerseits gestaltete er die Phrasen, in denen die Liebe zu Marie dominiert, sehr schwelgerisch und sanft, andererseits lieferte er kraftvolle, im besten Sinne aggressive, Passagen, je stärker die Grenze zwischen Realität und Traum verschwammen. In der Rolle der Marietta begann Gal James etwas verhalten bzw. vor allem in den Tiefen schwer hörbar, was möglicherweise aber auch an der Akustik der Szenerie gelegen haben mag. Im Laufe des Abends steigerte sie sich merklich, und man kam in den vollen Genuss ihres warmen Timbres, das sich vor allem in schön gesponnenen Piano-Passagen entfalten konnte. Sie brachte stimmlich und darstellerisch viel Energie und Lebensfreude auf die Bühne, einzig etwas mehr Frivolität wäre sowohl in der Stimme als auch im Spiel wünschenswert gewesen.

Frank und Fritz lagen bei Ivan Oreščanin in sicheren Händen, der schöne Bögen gestaltete und seinen angenehm timbrierten Bariton strömen lassen konnte. Die Darstellung des Frank blieb zwar großteils noch etwas blass, sobald er jedoch als Fritz – in Corsage und Pumps! – die Bühne betrat, war er dann nicht nur stimmlich, sondern auch darstellerisch wirklich überzeugend. Praktisch durchgehend auf der Bühne und in der Darstellung sehr präsent war Dshamilja Kaiser als Brigitta. Mit ihrem wunderschön dunklen und warmen Mezzosopran steuerte sie so herrliche Phrasierungen bei, dass man sich fast gewünscht hätte, dass „Glück, das mir verblieb“ein Duett zwischen Brigitta und Paul wäre. Tatsächlich hat die Rolle der Brigitta, obwohl hier zwar darstellerisch aufgewertet, leider wenig zu singen. Auch die Damen und Herren des Chors, sowie der Kinderchor der Grazer Oper erledigten ihren Job wie gewohnt auf hohem Niveau.

Am Ende des Abends blieben zwar viele Fragen offen - wer eindeutige Antworten haben möchte, müsste zur Interpretation des Librettos und der Inszenierung wohl einen Psychoanalytiker aufsuchen - im Vordergrund standen aber Korngolds wunderbare Musik, eine großartige musikalische Umsetzung, bei der das Orchester der Star des Abends war, und viel Spielraum für eigene Gedanken.

****1