Von gestern, für heute

Braucht es das wirklich: eine «Traviata» in Wiesbaden? So gegenwärtig und berührend, wie die Oper Giuseppe Verdis in der Hessischen Staatsoper gezeigt wird, auf jeden Fall.

Peter Hagmann
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Mit kräftigen Theatermetaphern arbeitende Inszenierung – Heather Engebretson als Violetta und Ioan Hotea als Alfredo. (Bild: Monika und Karl Forster)

Mit kräftigen Theatermetaphern arbeitende Inszenierung – Heather Engebretson als Violetta und Ioan Hotea als Alfredo. (Bild: Monika und Karl Forster)

In nächster geografischer Nähe stehen sie beieinander, die staatlichen oder städtischen Opernhäuser von Wiesbaden, Mainz, Darmstadt und Frankfurt. Und allerorten wird Abend für Abend Theater gespielt wie Theater geschaut, einmal mit mehr, einmal mit weniger Profil, überall jedoch in einer Weise, dass in den (natürlich hoch subventionierten) Häusern pulsierendes Leben herrscht. In Wiesbaden zum Beispiel, wo sich der deutsche Kaiser Wilhelm II. um 1900 eine repräsentative Oper mit einem unglaublich prunkvollen Foyer erbauen liess – im Dreispartenhaus von Wiesbaden hat zu Beginn dieser Saison der aus Köln vertriebene Regisseur Uwe Eric Laufenberg als Nachfolger des lange und erfolgreich tätigen Intendanten Manfred Beilharz das Heft in die Hand genommen. Er hat die Fenster geöffnet und für Durchzug gesorgt. In dem von Andrea Vilter geleiteten Schauspiel etwa gab es zur Saisoneröffnung ein szenisches «Rechercheprojekt» von Clemens Bechtel mit dem Titel «Die Träume der Armen, die Ängste der Reichen», zu dem ein für die gesellschaftlichen Strukturen der Stadt bemerkenswertes Magazin mit aufschlussreichen Informationen erschien.

Sängerische Entdeckungen

Auch in der von Laufenberg selbst geleiteten Oper ist frischer Wind aufgekommen. Nicht, dass der Spielplan durch besonderen Wagemut auffiele, da herrscht vielmehr das Repertoire – Brittens «Turn of the Screw» und Bernsteins «Candide» bilden da nicht mehr als zwei nette Feigenblätter. Doch im Interpretatorischen werden ungewohnte Wege gesucht. Die Regisseure dürfen das Altvertraute in neues Licht stellen (Vorsicht: Regietheater!). Und das Ensemble ist – was wie stets zu einiger Unruhe geführt hat – stark verändert und verjüngt worden: mit einigem Erfolg, wie die Premiere von Verdis «Traviata» gezeigt hat.

Ob eine so kleingewachsene, zartgliedrige Sängerin auf der Bühne würde bestehen können, das durfte man sich fragen – und konnte sich in Wiesbaden gleich eines Besseren belehren lassen: Die junge Amerikanerin Heather Engebretson, eine Schülerin von Edith Wiens an der New Yorker Juilliard School, weiss sich zu behaupten. Körperlich äusserst agil, wuselt sie durch die Männer in Gehrock und Zylinder, die mit ihren Stielaugen nicht genug von ihr bekommen können.

Minimalistische Inszenierung

Was aber an Stimme, selbst an Bruststimme, aus diesem zierlichen Körper heraustritt, ist von umwerfender Wirkung. Es deckt das ganze Ausdrucksspektrum in der Partie der Violetta ab, von der trotzigen Arroganz über das ungläubige Entdecken und den Frühling der Hingabe bis hin zur ultimativen Verzweiflung – da durfte gestaunt werden. – Ihr zur Seite steht der 1990 geborene Rumäne Ioan Hotea als Alfredo. Eine herrliche Stimme mit festem Kern und glanzvollen Obertönen, auf der Bühne zudem eine strahlende Erscheinung voll Kraft und Vitalität. Am Premierenabend trat aber auch die bei hohen Stimmen verbreitete Neigung heraus, die Intonation nach oben hin zu schärfen, was bisweilen geradezu schmerzhafte Verzerrungen zur Folge hatte. Dann jedoch: Alejandro Marco-Buhrmester als Alfredos Vater, ein keineswegs in die Jahre gekommener, in normativer Strenge und gesellschaftlicher Ambition verhärteter, sondern seinerseits noch ausgesprochen vitaler Giorgio Germont – wozu das helle Timbre dieses vorzüglich geführten Baritons das Seine beitrug.

Hart geraten Vater und Sohn aneinander, in einem erschreckenden Moment schlägt der Alte den Jungen mit dem Silberknauf seines eleganten Gehstocks nieder, im darauffolgenden Ringkampf wirft der Junge den Alten dann aber klar zu Boden – ohne dass das dem Drama freilich eine günstigere Entwicklung gesichert hätte.

So ist es in der minimalistischen, aber mit kräftigen Theatermetaphern arbeitenden Inszenierung, die Nicolas Brieger entworfen hat. Sie siedelt «La traviata» im Hier und Jetzt an, wie es Verdi ausdrücklich gewollt hat – weshalb der Salon Violettas durch die Party-Szene von heute ersetzt ist, Stretchlimo, Kindsmissbrauch und Sadomaso inbegriffen. Die Landhaus-Idylle zu Beginn des zweiten Akts wird durch nichts als einen Stapel Gartenstühle angezeigt, ergänzt aber durch einen Himmel voller Seifenblasen, die so rasch platzen können, wie sich Alfredos und Violettas Traum ins Nichts auflöst. Eine Grossform der Seifenblase hängt den ganzen Abend lang über dem Geschehen; sie zeigt von Anfang an, Verdi hat das so komponiert, das Ende der Geschichte: Violetta kahlgeschoren, mit offenem Mund, zuckend am Tropf. Auf der kargen Bühne Raimund Bauers, in den expliziten Kostümen Andrea Schmidt-Futterers und in den scharfen Lichtwirkungen von Andreas Frank findet das alles schneidende, aber auch bewegende Wirkung.

Instrumental bedenklich

Das Konzept wäre noch besser aufgegangen, hätte sich die Partitur in den Händen eines seiner Sache sicheren Dirigenten befunden. Zsolt Hamar scheint keinen Draht zu Verdis «Traviata» gefunden zu haben. Durchwegs zu langsam waren die Tempi, es gab auch nicht jene unmerklichen Nuancierungen des Grundzeitmasses, die Leben in die Musik bringen. Manche Passage blieb daher zäh kleben, und auch klanglich stellte sich nicht der volle Reiz dessen ein, was die Noten hergeben: Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden erreichte nicht die rhythmische Flexibilität, die hier vonnöten ist, blieb vielmehr bei jenem harschen Skandieren stehen, das sich in deutschen Landen bei Verdi so rasch einstellt. Der Dirigent musste denn auch ein deutliches Buh einstecken, während der Regisseur vom eher konservativen Wiesbadener Publikum für seine forsche Deutung gelobt wurde.