Nibelungen nach französischer Art: Ernest Reyers „Sigurd“ in Erfurt ans Licht geholt

Atmosphärisch dichte Bilder schafft Maurizio Balò für Ernest Reyers "Sigurd" am Theater Erfurt. Foto: Lutz Edelhoff

Atmosphärisch dichte Bilder schafft Maurizio Balò für Ernest Reyers „Sigurd“ am Theater Erfurt. Foto: Lutz Edelhoff

Erstaunlich, was es nach Jahrzehnten ausgedehnter opernarchäologischer Feldforschung noch zu entdecken gibt. Und erstaunlich, was an einem mittelgroßen deutschen Opernhaus möglich ist, wenn der richtige Intendant kreatives Potenzial entfaltet: Unter Guy Montavon ist Erfurt zu einer ersten Adresse für Uraufführungen und für Ausgrabungen vergessener, vernachlässigter und verkannter Werke geworden.

Die laufende Spielzeit – anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren – steht unter dem Motto „Geliebter Feind“: Sie brachte mit der Uraufführung von „Das schwarze Blut“ des Franzosen François Fayt einen mit dem Krieg verbundenen Stoff auf die Bühne, und sie thematisiert mit Ernest Reyers „Sigurd“ jetzt das über Jahrhunderte hin belastete Verhältnis zwischen der französischen Nation und den Deutschen.

Ernest Reyer (1823-1909) ist einer der Musikmenschen aus der zweiten Reihe, die zu ihrer Zeit erheblichen Einfluss hatten, später aber aus vielerlei Gründen vergessen wurden. Als Journalist und Kritiker – unter anderem für das einflussreiche „Journal des débats“ –, als Förderer von Hector Berlioz und Bewunderer Richard Wagners, als Freund deutscher Kultur und Literatur, war Reyer bedeutungsvoll; als Komponist einiger Opern wirkte er kaum über den französischen Sprachraum hinaus.

Ernest Reyer auf einer historischen Abbildung, um 1890.

Ernest Reyer auf einer historischen Abbildung, um 1890.

„Sigurd“ ist neben „Salammbȏ“ die erfolgreichste seiner Opern – ein Schmerzenskind, dessen Geburt mehr als zwanzig Jahre dauern sollte: Spätestens 1866 arbeitete Reyer daran, das Libretto von Alfred Blau und Camille du Locle zu vertonen, doch die erste Aufführung fand erst 1884 in Brüssel statt.

Die Pläne Reyers, das Werk in Paris uraufzuführen, scheiterten am Wechsel der Direktoren der Opéra und an der politischen Lage: Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 war eine Oper auf einen als deutsch empfundenen Stoff nicht mehr opportun. Doch nach dem Erfolg in Brüssel griff Paris zu: Ein Jahr später erlebte Reyer den Triumph seines Werkes, das bis zum Zweiten Weltkrieg im Repertoire der Opéra blieb.

In Deutschland war – wohl ebenfalls aus politischen Gründen – Reyers „Sigurd“ nie zu sehen: Nach Wagners „Ring des Nibelungen“ verschwand etwa auch Heinrich Dorns „Die Nibelungen“ vom Spielplan. Die Annahme liegt nahe, dass eine französische Oper auf den Stoff der „Götterdämmerung“ in einem von Wagnerianern geprägten Klima nur schwer vorstellbar gewesen wäre. Erfurt holt also längst Fälliges nach und erschließt eine Oper, die mehr als nur Ausgrabungs-Interesse für sich beanspruchen kann.

Das Libretto stützt sich – wie Wagner – auf das Nibelungenlied, aber auch auf die Edda und die Välsungasaga. Auch die Spuren von „Tristan und Isolde“, die Reyer 1863 bei einem Besuch in Deutschland kennengelernt hatte, schlagen sich nieder. Am Wormser Hof Gunthers lehnt dessen Schwester Hilda – ihr Vorbild ist Kriemhild – die Hand Attilas ab. Sie liebt den fernen Helden Sigurd, der sie einst befreit hatte. Sigurd will jedoch Brunehild gewinnen: Die Walküre wurde aus dem Himmel verbannt, weil sie für einen Sterblichen auf der Erde gekämpft hat, in dem unschwer Sigurd zu erkennen ist.

Ein Zaubertrank der Amme Hildas, Uta, lenkt das Streben Sigurds um: Er verbündet sich mit Gunther und verspricht, was nur er als reiner Held vollbringen kann: Brunehild aus einem feuerumlohten Palast zu holen und Gunther als Gattin zuzuführen. Dazu schlüpft er in Gunthers Rüstung – Zauberdinge wie Tarnhelm und Ring kommen bei Reyer nicht vor. Zurück am Hof, täuscht Sigurd die misstrauische Brunehild und fordert als Lohn für seinen Dienst die Hand der überglücklichen Hilda.

Nach der Doppelhochzeit kommt es, wie es kommen muss: Hilda petzt und zeigt stolz Brunehilds Keuschheitsgürtel, den sie von Sigurd geschenkt erhielt. Die einstige Walküre erfährt die Wahrheit, das von Uta erahnte Unglück nimmt seinen Lauf …

Die Inszenierung verschränkt Mythos und Geschichte

Guy Montavon vollbringt in Erfurt das Kunststück, die Handlung in wunderschön üppigen Bildern zu erzählen, die heillos kitschig wären, hätte er sie nicht durch den Bezugsrahmen gebrochen. Sein Thema ist das Wirken des Mythos in der Geschichte: Er greift auf, wie der Nibelungenstoff in der Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts Kultur und Politik beeinflusst hat. Begriffe wie „Nibelungentreue“ oder Verse wie „Die Wacht am Rhein“ sind nur die Schaumkronen auf den Wogen eines geistesgeschichtlichen Stroms, dessen Verzweigungen im Denken der Zeit vielfach nachspürbar sind.

Das erste der wirkmächtigen und atmosphärisch großartigen Bilder der Bühne von Maurizio Baló ist ein Nachkriegsszenario: die Ruinen des zerstörten Worms recken sich in einen trüben Himmel, Frauen klopfen Steine sauber, Kriegsversehrte kauern in tristen Trümmern. Hilda liegt verängstigt in einem schiefen Bett am Bühnenrand, umsorgt von Krankenschwester Uta. Ein Albtraum ängstigt sie immer wieder. Ihre Rettung ist ebenfalls eine erträumte: Sigurd, der Held, wird aus ihrer Fantasie geboren, eine idealisierte Gestalt aus einem retrospektiv ersonnenen Roman-Mittelalter. Die Regie macht die Kopfgeburt deutlich: Der „Held“ bewegt sich parallel zu der kranken Hilda. Der Barde, der von seinen Taten singt (mit robustem Ton: Máté Sólyom-Nagy), ist ein blutiger Verletzter.

Wirkungsvolle Bilder erinnern an Illustrationen des Historismus

Diese Linie zieht Montavon durch: Hilda leidet, hofft und echauffiert sich mit der Handlung auf der Bühne, auf der ein nostalgisch kostümiertes Mittelalter das Bild prägt – wie abgeschaut von Illustrationen der Sagenbücher des 19. Jahrhunderts. Das Island, aus dem Sigurd Brunehild holt, ist Theaterspiel: Ein aufgezogenes Tuch zeigt schroffe Eisgebirge, der düster orgelnde Odinspriester (Juri Batukov) trägt das Kostüm imaginierter Germanen-Vorzeit. Die goldenen Flügelhelme in den Händen des Chors sind mehr als Requisiten – es sind Verweise auf „illustrierte“ Geschichte in der Kunst des Historismus.

Auch Hagen (Vazgen Ghazaryan) erinnert an Fürstenporträts, wie wir sie etwa bei Moritz von Schwind finden. Ein bildnerischer Coup ist das Auftauchen Brunehilds in einem wikingerzeitlichen Bestattungsschiff – ihr Gewand ist ein Traum aus Gold, der Stil in einer Art, wie sich wackere Wagnerianer ihre werkgetreue „Walküre“ vorstellen (Kostüme: Frauke Langer). Im Hintergrund mahnt jedoch ein Rheinschiff in kaltem, grauem Stahl an die bedrückende Wirkung des Mythos Jahrhunderte nach seiner geschichtlichen Zeit.

Gefallene Walküre: Ilia Papandreou als Brunehild. Foto: Lutz Edelhoff

Gefallene Walküre: Ilia Papandreou als Brunehild. Foto: Lutz Edelhoff

Das Ende dekonstruiert den Mythos: Sigurd singt seinen Schlussgesang im verschlissenen Mantel eines Weltkriegssoldaten, Hilda beschwört ein apokalyptisches Szenario. Sie ersticht sich mit dem Schwert Sigurds in ihrem Bett, während Sigurds und Brunehild aus einer Flamme in ein visionäres Jenseits enthoben werden: ein „Liebestod“, in dem Reyers Kenntnis von „Tristan und Isolde“ nachklingt. Ungerührt packt Uta die Bettwäsche zur Desinfektion in einen Plastiksack. Der Traum endet mit Tod und Vernichtung: Attila triumphiert über Gunthers Reich, aus dem Boden fährt der riesige bronzene Kopf eines Kriegerdenkmals – mit dem Heldenpaar auf dem Helm.

Die musikalische Seite der Wiederentdeckung ist bei der neuen Generalmusikdirektorin Erfurts, Joana Mallwitz, in besten Händen. Auch wenn sich Reyer in der Ouvertüre mit einem vierstimmigen Fugato gelehrsam zeigen will: Als musikalischer Wagner-Epigone erweist er sich nicht. Da mögen die Hornrufe bei Gunthers Jagd für einen Moment auf den gleichen Moment in der „Götterdämmerung“ verweisen, da mag Brunehilds Erweckung („Salut, splendeur du jour“) an „Heil Dir, Sonne, Heil Dir, Licht …“ erinnern – musikalischen Reminiszenzen sind nicht eindeutig zu identifizieren.

Reyers glühender Lyrismus hat eher etwas mit Charles Gounod zu tun; seine prunkenden Tableaus könnten von Camille Saint-Saëns inspiriert sein; die fahlen Holzbläser, die Hagen begleiten, erinnern an Hector Berlioz. Die Brücken zu Giacomo Meyerbeers musikalischer Architektur sind fragil: Reyer hat, aus dem Gehörten zu schließen, nicht die Spannkraft für die beziehungsreichen Bögen, die sein älterer Kollege schlägt.

Farbige Instrumentierung, erhabenes Pathos

Aber Mallwitz und das Erfurter Orchester lassen das Schwärmerische und das Pathetische in Reyers Musik zu, bringen die farbige Instrumentierung zum Glühen, fassen den mitreißenden Rhythmus scharf und energisch, zeigen Reyers Stärken im expressiven Ausleuchten von Szenen, verleugnen aber auch nicht, dass ihm die Erfindung der einprägsamen Melodie, der packenden Szene nicht gegeben war. Marc Hellers luzider, kraftvoller Tenor kommt nicht nur mit den hohen Noten bis zum C mühelos zurecht; er versteht es auch, die musikalische Rede in tönende Farben umzusetzen.

Marisca Mulder (links) als Hilda und Katja Bildt als Uta in Reyers "Sigurd" in Erfurt. Foto: Lutz Edelhoff

Marisca Mulder (links) als Hilda und Katja Bildt als Uta in Reyers „Sigurd“ in Erfurt. Foto: Lutz Edelhoff

Kartal Karagedik setzt als Gunther einen profilierten Bariton ein; Vazgen Ghazaryan hat als Hagen nur eine periphere Rolle, die er mit markigem Ton erfüllt. Bei den Damen ist nicht aller Glanz von purem Stimmgold gespiegelt: Ilia Papandreou, die aus Liebe sterbende Walküre, schleudert imposante dramatische Momente über die Rampe, muss aber darauf achten, den Kern der Stimme nicht durch Vibrato auszuhöhlen. Marisca Mulder versenkt sich mit bewundernswertem Engagement in die Rolle der traumatisierten Hilda, kann aber neben schön geführten Linien und sanftem Mezzoforte manch hartem Ton nicht wehren. Katja Bildt als brangänenähnliche Uta reüssiert mit flammenden Prophezeiungen und dunklen Ahnungen.

Andreas Ketelhuts Chor pariert die Herausforderungen anstandslos: abgerundet im Ton, agil in der Bewegung. – Die Reise nach Erfurt lohnt sich: Reyer steht nicht bloß für einen vom „Wagnerisme“ seiner und der folgenden Generation unabhängigen Weg; er kann sich mit seiner Adaption der reichen französischen Musiktradition auch als unabhängiger, kreativer Kopf mit anderen Komponisten seiner Zeit messen.

Weitere Aufführungen: 7. März, 22. März
Information: www.theater-erfurt.de

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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