Unter dem Teppich ist Blut

Mit seiner St. Galler Inszenierung der Donizetti-Oper «Lucrezia Borgia» glückt Tobias Kratzer ein Experiment. Zum Gelingen tragen eindrucksvolle Sänger bei, die ihre Rollen mit Lust und Energie ausfüllen.

Rolf App
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In jeder grossen Oper steckt ein emotionaler Kern, der weit über ihre Entstehungszeit hinaus Gültigkeit beansprucht. Er spricht den Menschen an, seine Sehnsüchte, Leidenschaften, Konflikte. Die Handlung, in die sich solches eingebettet findet, ist daneben oft zweitrangig. Von zentraler Bedeutung aber wird in der Umsetzung die Fähigkeit des Komponisten, für die Vorgänge und psychischen Zustände eine musikalische Sprache zu finden. Dann kann uns eine Oper auch jenseits der Worte tief berühren.

Die ausspionierte Frau

Man braucht sich dazu nur das zweite Bild des ersten Akts der Oper «Lucrezia Borgia» von Gaetano Donizetti anzuhören, die am Samstagabend im Theater St. Gallen Premiere hatte. Sie dreht sich um den jungen Gennaro (gesungen und gespielt von Anicio Zorzi Giustiniani), zu dem Lucrezia Borgia (Katia Pellegrino) ein ausserordentlich inniges Verhältnis entwickelt hat. Ihrem Mann, Don Alfonso (Paolo Gavanelli), ist dies nicht entgangen, sein Gehilfe Rustighello (Dean Power) hat Lucrezia schon lange nachspioniert.

Streit im Schlafzimmer

Einen fatalen Fehler begeht Lucrezia Borgia, als sie den Kopf jenes Übeltäters fordert, der in der Nacht zuvor die Mauer ihrer Villa unflätig beschmiert hat. Sie ist erschüttert, als Don Alfonso ausgerechnet Gennaro herbeischaffen lässt, den sie doch um alles in der Welt schützen will. Eine fast halbstündige Auseinandersetzung der Eheleute entbrennt, die Donizetti ganz meisterhaft in Töne fasst. Lucrezia bittet und fleht, dann, auf dem Höhepunkt, droht sie mit ihren mächtigen Verwandten. Don Alfonso indes gibt ihr zu bedenken, dass sie sich in seiner Gewalt befinde. Sie pendelt zwischen Wut und Verzweiflung, wird heftig, ja schrill, er spielt gelassen seine Überlegenheit aus. Gennaro befindet sich in seiner Hand, sie aber soll ihm sogar den vergifteten Wein reichen.

Paolo Gavanelli spielt den bärenhaft schwerfälligen Machtmenschen restlos überzeugend. Schauplatz dieser zentralen Szene der Oper ist im Libretto ein Saal im Palast des Herzogs von Ferrara. Schauplatz auf der St. Galler Bühne: Das Schlafzimmer einer hypermodernen, vom Bühnenbildner Rainer Sellmaier dorthin gepflanzten Villa, die sich im Verlauf des Abends immer wieder dreht.

Empfang im Hause Borgia

So können wir Lucrezia Borgia schon während der Ouverture bei der Toilette zuschauen, gleich darauf aber werden wir Zeuge eines farbenprächtigen Empfangs im kühlen, aber geräumigen Wohnzimmer, in dessen Verlauf einer der Gäste den Teppich lupft – und darunter Blut entdeckt.

Gennaro: zwischen zwei Frauen

Zusammen mit Gennaro sind auch einige junge Leute anwesend, die sich über die von düsteren Legenden umrankte Frau des Hauses lustig machen, ja sie sogar bedrängen: Sie heissen Liverotto (Derek Taylor), Gazella (Jordan Shanahan), Petrucci (David Maze) und Vitellozzo (Nik Kevin Koch). Sie lieben das Leben und lassen kein Fest aus. In ihrer Mitte Maffio Orsini (Allyson McHardy), von Donizetti als Hosenrolle entworfen, hier aber eine junge schöne Frau, die Gennaro aus tiefstem Herzen liebt.

So gerät Gennaro zwischen zwei Frauen. Dass er Lucrezia Borgias unehelicher Sohn ist, erfährt er erst ganz zum Schluss, als diese bei einer wilden Party im Hause der Fürstin Negroni die erlittene Kränkung mit Gift rächt. Gennaros Freunde sollen sterben. Dass er selber auch dabei sein wird, weiss sie nicht.

Natürlich steckt in der manchmal etwas kruden Handlung auch die Freude des 19.Jahrhunderts an gruselig-blutigen Geschichten. Aber es finden sich darin ebenso Konflikte, die uns keineswegs fremd sind. Wenn der Regisseur Tobias Kratzer deshalb diese Oper aller historischen Bezüge entkleidet und sie radikal in unsere Gegenwart verpflanzt, dann hat das durchaus seine Logik.

Szenen voller Bewegung

Vor allem: Es geht mit nur geringen Retuschen am deutschen Text erstaunlich gut auf. Lustvoll entwirft Kratzer Szenen, die voller Spannung und voller Bewegung sind – und manchmal mit einem Schuss Komik aufwarten. Und in denen der Chor des Theaters St. Gallen und die Herren des Opernchors St. Gallen viel zur Farbe beitragen. Wobei hier die musikalische Farbe gemeint ist, nicht das Ambiente. Denn in den ebenfalls von Rainer Sellmaier entworfenen Kostümen herrschen düstere Töne vor, während Reinhard Traubs Lichtregie dazu tendiert, alles erbarmungslos auszuleuchten.

In herausragender Spiellaune

Achtsam arbeitet das von Pietro Rizzo geleitete Sinfonieorchester St. Gallen die Feinheiten der Partitur heraus. Die Sänger schliesslich zeigen sich ausnahmslos in herausragender Spiellaune, allen voran Katia Pellegrino, die sängerisch Enormes leistet, und Paolo Gavanelli. In ihrer Ehe ist so vieles schon tot, was zwischen Gennaro und Orsini blüht. Denn auch dies steckt in diesem wundervollen Stück Musiktheater: dass Beziehungen leben oder sterben können.