Bremen - Wo spielt Bizets Oper „Carmen“ in der Inszenierung von Anna-Sophie Mahler? Jedenfalls nicht im spanischen Sevilla! Im Programmheft heißt es: „Im Rahmen einer Gesellschaft nimmt José an einer Zeremonie teil.“ Das Bühnenbild von Duri Bischoff zeigt eine großbürgerliche Villa, die auch für „Arabella“ geeignet wäre. Sie wird bevölkert von elegant gekleideten, Zigarre rauchenden Herren, die von adretten Dienstmädchen bedient werden. Eine von ihnen ist Carmen.
Trauma in Kindheit
Don José ist während der gesamten Aufführung auf der Bühne. Er betrachtet das Geschehen als Rückblick oder als Traum. Und auch Zuniga (eigentlich Soldat) verfolgt alles im Hintergrund. Steht er für Sigmund Freud? Und diese „Zeremonie“ – ist sie das Arrangement des Psychiaters Zuniga, um die Traumata von Don José aufzuarbeiten?
In Mahlers Inszenierung steht nicht die Femme fatale Carmen im Mittelpunkt, sondern die Psyche Don Josés. Carmen ist dabei eher eine Projektion männlicher Fantasie, ein Katalysator, an dem sich Don Josés Charakterzüge wie unkontrollierte Emotionen, Aggression und Schuldgefühle entzünden. Und die Villa ist im Grunde ein Versuchslabor, in dem Traum und Realität sich ständig vermischen.
Mahler geht auch der Frage nach, wie viel „Weiblichkeit“ und wie viel „Männlichkeit“ in jedem stecken. Carmen reicht Don José ein Kleid, das er sich überstreift. Und sie selbst kommt im letzten Akt eher wie ein Torero daher. Don José ist dann fast das Opfer, der „Stier“, der geschlachtet wird.
Es ist dieser Stierkampf der anderen Art, der von den Umstehenden verfolgt wird. Dass Don José in seiner Kindheit tief traumatisiert wurde, will Mahler in einer hinzuerfundenen Szene verdeutlichen. Dazu verlegte sie den Kinderchor in den dritten Akt. Eines dieser Kinder ist Don José. Er geht die Treppe hoch und – so scheint es – erblickt dort seinen Vater in Frauenkleidern neben der Leiche seiner Mutter.
Ist durch dieses Ereignis Josés besonderes Verhältnis zu seiner Mutter geprägt? Mahlers Inszenierung geht in den beiden ersten Akten gut auf. In der zweiten Hälfte verzettelt sie sich aber in psychologischer Verrätselung und entfernt sich doch etwas zu sehr vom Inhalt der Oper, die eben auch ein leidenschaftliches Eifersuchtsdrama vor Augen führt. Spannend war es trotzdem.
Schöne Blumenarie
Auf die Dialoge wurde in Bremen fast ganz verzichtet. Die Musik sprach auch für sich genug. Markus Poschner und die Bremer Philharmoniker servierten eine „Carmen“-Interpretation, die in ihrer Dichte, in ihren Tempi, in ihrem Farbenreichtum und in ihrem Klangrausch sensationell war. Eine eindrucksvolle Leistung.
In der Titelpartie konnte die junge Mezzosopranistin Theresa Kronthaler mit einem durchgefeilten und persönlichkeitsstarken Rollendebüt restlos überzeugen. Wohlklang paarte sich mit Kaltschnäuzigkeit.
Luis Olivares Sandoval führte als Don José seinen warm timbrierten Tenor mit schöner Mittellage und sicherer Höhe durch die Partie. Seine „Blumenarie“ entwickelte er ganz aus dem Lyrischen.
Auch Erika Roos war als Micaëla mit aufblühendem, kraftvollem Sopran eine hervorragende Besetzung. Der Escamillo ist eigentlich eine undankbare Partie, Loren Lang sicherte ihr aber mit Routine durchaus einige Präsenz.