Eine fast ganz normale Frau

Um ein Haar wäre das Unternehmen gescheitert, aber dank Glück im Unglück wird «Medea» von Cherubini, die jüngste Produktion der Oper Genf, zu einem Abend von überraschender Wirkung.

Peter Hagmann
Drucken
Cherubini, glaubt man zu wissen, hat nichts als akademisch-langweilige Musik komponiert – das Genfer Grand Théâtre tritt den Gegenbeweis an. (Bild: Wilfried Hösl)

Cherubini, glaubt man zu wissen, hat nichts als akademisch-langweilige Musik komponiert – das Genfer Grand Théâtre tritt den Gegenbeweis an. (Bild: Wilfried Hösl)

Beider Ruf ist denkbar schlecht. Herrin über dunkle Kräfte, zu jeder noch so schrecklichen Tat fähig, ihren Bruder hat sie eigenhändig umgebracht und die Leiche zerstückelt, später vergiftet sie ihre Nebenbuhlerin, tötet sie ihre eigenen Kinder und setzt sie einen ganzen Palast in Brand – das ist Medea. Luigi Cherubini wiederum hat, so glaubt man zu wissen, nichts als langweilige Musik komponiert, akademisch und staubtrocken, am Übergang zwischen der späten, furchtbar erhabenen Klassik und der aufkeimenden Romantik. Beides ist nur partiell, ja eigentlich überhaupt nicht wahr, so verkündet es jetzt das Grand Théâtre de Genève, das jetzt (und noch bis zum 24. April) mit Cherubinis Oper «Medea» aufwartet.

Hartes Los

Gut, zur Ausnahme hätte es ja auch die gleichnamige Oper Aribert Reimanns sein können, aber das wäre für das Publikum des Genfer Hauses vielleicht eine Spur zu viel des Guten gewesen. Also doch Cherubini – aber leider nicht in der französischen Originalfassung, wie sie 2008 die Brüsseler Oper mit sensationellem Erfolg herausgebracht hat, sondern in der italienischen Version mit den von Franz Lachner nachkomponierten Teilen, in der das Werk nicht zuletzt von Maria Callas Mitte des 20. Jahrhunderts ein wenig und nur für kurze Zeit ans Licht geholt worden ist. Allein, all das spielt keine Rolle, die Genfer Produktion ist auch so von erster Güte. Sie lässt ein Werk kennenlernen, das eindeutig besser ist als sein Ruf, und ermöglicht die Begegnung mit einem Stoff, der bei weitem vielschichtiger und aktueller ist, als man gemeinhin annimmt.

Und das unter denkbar schwierigen Umständen. Denn wenige Tage vor der Premiere musste Jennifer Larmore, um die herum der Genfer Intendant Tobias Richter diese Produktion arrangiert hat, aus gesundheitlichen Gründen aussteigen. Da war guter Rat teuer, gibt es doch nur wenige Sängerinnen, welche die gefürchtete Partie der Medea Cherubinis bereithalten. Alexandra Dehorties gehört zu ihnen, sie war sogar frei und zudem bereit, kurzfristig in die Produktion einzusteigen. Ein Glücksfall. Was den stimmlichen Glanz allein betrifft, mag die hauptsächlich in Amerika wirkende Kanadierin nicht ganz zur ersten Garde gehören, aber als Charakterdarstellerin ist sie einzigartig. Sie verbindet hochentwickelte vokale Kunst mit einem Körperausdruck, wie er im Musiktheater selten anzutreffen ist. Wenn Medea die als aufwendige Mauerschau mit grosser Bühnenmusik gestaltete Hochzeit ihres Gatten mit dessen Geliebter miterleben muss, spielt sich dies zutiefst verletzende Geschehen auf dem Gesicht der Darstellerin in ganzer Grausamkeit ab. Und wenn sie am Ende zu ihrer grossen Wahnsinnsszene gelangt, singt und spielt sie das absolut schonungslos.

Das ist darum so hautnah zu erleben, weil der Ausstatter Herbert Murauer zwischen dem Orchestergraben und der ersten Sitzreihe einen Laufsteg erstellt hat, auf dem Medea mit ihren ebenso quälenden wie erschreckenden Seelenregungen dem Zuschauer so nahe kommt, wie es sonst nie der Fall ist (für die weiter entfernt sitzenden Teile des Publikums gibt es eine Videoprojektion). Das entspricht haarscharf dem deutenden Ansatz, den der Regisseur Christof Loy verfolgt. Die in mehreren Stufen nach hinten führende Bühne, die ganz in edlem Holz gehalten ist, repräsentiert den erstarrten Klassizismus der Entstehungszeit von Cherubinis Oper. Bevölkert wird diese Bühne, der Hof Kreons, aber von einer gehobenen, auf äussere Wirkung und Spass fixierten Gesellschaft unserer Tage. Auch Medea gehört dazu; sie könnte die Freundin von nebenan sein, die von ihrem Ehemann verlassen wurde und im Scheidungsverfahren auch das Sorgerecht für ihre beiden Söhne verloren hat. Gleichzeitig hebt sich Medea in ihrer Unbedingtheit, um nicht zu sagen: ihrer Wahrhaftigkeit scharf ab von ihrer Umgebung. So schrecklich ihre Taten sind, und der grandiose Feuerzauber am Ende des Stücks unterstreicht diese Schrecklichkeit, so sehr kann man sich mitfühlend auf die Seite dieser Frau stellen. Das ist gescheit durchdacht und mit grossartigem Theatersinn realisiert.

Ausgefeilte Figurenzeichnung

Vor allem mit ausgefeilter Zeichnung der einzelnen Figuren, und das musikalisch wie szenisch – wobei sich die Darsteller allesamt und bis zur letzten Figurantin kompromisslos der Idee des Abends hingeben. Mit seinem weichen, lyrisch angelegten Bariton ist Daniel Okulitch kein herrischer, sondern ein junger, für die Reize Medeas nicht unempfänglicher Kreon. Während Andrea Carè – der über glanzvolles stimmliches Material verfügt, aber mit so viel Portamento agiert, als befände er sich bei Puccini – als Jason ebenfalls nicht den Helden gibt, sondern den Mann, der sich an einer Wende seines Lebens befindet und dabei nicht recht ein und schon gar nicht aus weiss. Hinreissend in ihrer Ausstrahlung Sara Mingardo als Medeas Begleiterin Neris; und berührend Grazia Doronzio in der Partie der Glauce, der neuen Frau, die kaum älter ist als die beiden Söhne Jasons. Eine Hauptrolle spielt aber das von Marko Letonja geleitete Orchestre de la Suisse Romande, das im hochgefahrenen Orchestergraben wirkt und voll ins Geschehen eingebunden ist. Klein besetzt und mit wenig Pomp agierend, lässt es zu allgemeiner Überraschung entdecken, wie viel Einfall, Experimentierfreude und pulsierende Kraft die, wenn sie überhaupt erklingt, gern so erratisch wirkende Musik Cherubinis zu erkennen geben kann.