Flucht in den Weltinnenraum

Mit der Uraufführung «la bianca notte / die helle nacht» endet an der Hamburger Staatsoper die Ära der Dirigentin Simone Young. Das Werk ist repräsentativ für die Bilanz dieser zehnjährigen Amtszeit.

Christian Wildhagen, Hamburg
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Gefangen im Gestänge der Welt: Tómas Tómasson als Dichter Dino in «la bianca notte». (Bild: Jörg Landsberg)

Gefangen im Gestänge der Welt: Tómas Tómasson als Dichter Dino in «la bianca notte». (Bild: Jörg Landsberg)

Vielleicht ist die Antwort wirklich so einfach. Die Antwort auf Fausts grosse Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält. Bei dem Londoner Regisseur Ramin Gray lautet sie schlicht: Klebeband. Mit Klebeband verschliesst der fragende Geist die Risse, die sich ihm auftun im Weltenbau. Man könnte dies als typisch britischen Kommentar zu ebenso typisch deutscher Bedeutungshuberei verstehen. Doch in diesem Fall geht es gar nicht um Goethe, vielmehr um den italienischen Dichter Dino Campana. Der Komponist, der dessen Werk und Lebensschicksal auf die Opernbühne bringt, ist auch kein Deutscher, sondern Schweizer und lebt seit langem in Österreich. Und die Dirigentin, die mit dieser Uraufführung nach einem Jahrzehnt Abschied nimmt von ihrer Wirkungsstätte, stammt aus dem fernen Australien. Gleichwohl passt der Faust-Vergleich. Auch in diesem Fall geht es, in wahrhaft grenzüberschreitenden Dimensionen, um einen, der letzte Fragen stellt und dem die Welt auf seiner Suche nach Antwort zum Tollhaus wird.

Verkehrte Verhältnisse

Der Komponist Beat Furrer hat in dem Dichter Dino Campana einen Wahl- und Wesensverwandten erkannt und ihm in seiner jüngsten Oper «la bianca notte / die helle nacht» ein doppeltes Denkmal gesetzt. Zum einen ist dieses Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper die durchaus traditionsverbundene Musikalisierung, sprich: Wort-für-Wort-Vertonung von Texten Campanas, die bereits Sprach-Musik im besten Sinne sind. Zum anderen verschränkt die Oper die stark autobiografischen Dichtungen in vielschichtiger Weise mit dem Lebensweg des Poeten, der sein schmales Werk zunächst im Dunstkreis, dann in scharfer Abgrenzung zu den italienischen Futuristen verfasste.

Furrer hat sich die Vorlage zu diesem komplexen Unterfangen selbst aus den «Canti Orfici» zusammengestellt – jenem Buch, das Campana 1914 gegen massive Widerstände im Selbstverlag herausgab und das heute als Schlüsselwerk der literarischen Moderne gefeiert wird.

Der Gang der Opernhandlung scheint durch die äussere Biografie Campanas vorgegeben. Geboren im toskanischen Marradi 1885, musste sich Campana schon mit Anfang zwanzig in psychiatrische Behandlung begeben und starb 1932, nach einer ruhelosen Wanderung um den halben Erdball, in einer Anstalt nahe Florenz – in geistiger Umnachtung (und somit in illustrer Hölderlin-, Schumann- und Nietzsche-Nachfolge). Furrers Libretto allerdings stellt den «Irrsinn» des Dichters grundsätzlich infrage. Furrer kehrt die Verhältnisse um: Seine Opernfigur «Dino» lebt und denkt ausschliesslich in der Sprachwelt der «Orphischen Gesänge»; die ist buchstäblich komponiert aus ungewöhnlichen Metaphern und entsprechend vieldeutig, aber alles andere als «verrückt». Wie von allen guten Geistern verlassen geriert sich hingegen die Umwelt, die dem Dichter ihre Vorstellungen von Kunst und Leben aufzwingen und ihn mundtot machen will, als er sich ihren Vorgaben widersetzt.

Künstlerdrama

Dies ist die klassische oder vielmehr erzromantische Konstellation des Künstlerdramas à la «Tannhäuser», die auch noch in Werken des 20. Jahrhunderts wie Pfitzners «Palestrina» oder Hindemiths «Mathis der Maler» gültig blieb. Furrer betont demgegenüber den sozialkritischen Aspekt, indem er nicht – wie jene – den Einzelnen an der Gesellschaft, sondern umgekehrt die uniforme Mehrheit an dem Eigensinn des unangepassten Individuums «irre» werden lässt. Auch die stolze und sängerisch kraftvolle Darstellung Dinos durch den Bariton Tómas Tómasson lässt keine Zweifel, dass der Wahnsinn ein dem Dichter aufgenötigter Zustand ist. Ramin Grays Regie bemüht dafür das scheinbar banale Sinnbild mit dem Klebeband: Dino, dessen poetisch-freies Denken die Bruchstellen im modernen Weltbild sichtbar macht, wird gezwungen, ebenjene Risse, die als Spalten im Bühnenboden aufbrechen, mit schwarzem Kreppband zu kitten. Die Ordnung lässt sich durch dieses absurde Tun natürlich nicht wiederherstellen, und in seiner Not wird Dino schliesslich den eigenen Kopf umwickeln und sich selber knebeln. Wer so etwas tut, kann nur verrückt sein. Oder?

Es ist dies eine der sprechendsten Szenen des mit 85 Minuten vergleichsweise knapp gehaltenen Opernwerks, das trotz seiner Kürze namentlich im ersten Teil einige Längen aufweist. Als sei in Furrer die musikalische Sprache für sein Stück erst mit der Zeit in einen natürlichen Fluss gekommen, bleiben seine hochkomplexen Überlagerungen verschiedener Klang- und Tempo-Schichten anfangs abstrakt und ziemlich blutleer. Auch die als Alter Ego entworfene Verführer-Gestalt des Regolo (Derek Welton) entwickelt, wie später die Spiegel-Figur «Il Russo» (Tigran Martirossian), zu wenig echtes Theaterleben.

Solches kommt erst ins Geschehen, als Dino den zwei Frauen in seinem kurzen (Bühnen-)Dasein begegnet. Vor allem mit der leuchtenden Sibilla von Golda Schultz – gemeint ist die den Futuristen nahestehende Schriftstellerin Rina Faccio alias Sibilla Aleramo – entspinnt sich ein herrlicher Zwiegesang, zu dem Gray sinnfällig Planeten und Monde kreisen lässt. Furrers Musik schliesst hier in ihrer klangsinnlichen Imaginationskraft tatsächlich auf zur Bildermacht Campanas und eröffnet den Liebenden eine Art tönenden Weltinnenraum, in dem sie schweben.

Doch die Liebe bleibt Episode – eine von siebzehn assoziativ ineinanderfliessenden Szenen innerhalb des drei grössere Abschnitte umfassenden Werks. Und episodisch bleibt auch die Begegnung mit «Indovina», einer zweiten Musengestalt und Wahrsagerin. Die Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner verleiht ihr eine magisch entrückte Aura. Wie die Sibilla ist auch sie vermutlich der verklärenden Vorstellung Dinos entsprungen, denn sie singt dem Dichter, ihm gleichsam diktierend, seine Verse vor wie eine Göttin der Poesie.

Furrers Musik findet hier nach und nach zu einem tonalen Idiom zurück, in dem sich archaisierende Passionstöne mit Kanonschleifen à la Pachelbel und den desillusionierten Klängen des letzten «Tristan»-Aktes mischen. Dino, dem Ausgeschlossenen, bleibt am Ende nichts anderes, als sich unter dem Druck der äusseren Welt ganz in den Innenraum seiner Poesie zurückzuziehen. Ob er darüber tatsächlich den Verstand verliert, bleibt offen: «Ich lebe in einem Zustand fortwährender Gesichte», lautet der mehrdeutige letzte Satz der Oper.

Durchwachsene Bilanz

Mit der Uraufführung von «la bianca notte» wollte Simone Young, die Intendantin und Generalmusikdirektorin der Hamburger Staatsoper, einen finalen Glanzpunkt setzen nach zehn Spielzeiten, in denen sie das 1600-Plätze-Haus durch Höhen und Tiefen und auch über manche künstlerische Durststrecke gesteuert hat. Die Bilanz bleibt durchwachsen – für diesen letzten Premierenabend wie für die Ära Young im Ganzen. Einige unkonventionelle Projekte wie die Trilogie dreier früher Verdi-Opern 2013 oder der «Ring»-Zyklus von Claus Guth werden in Erinnerung bleiben. Doch von Glanzzeiten, in denen die Staatsoper den intellektuellen Operndiskurs im deutschsprachigen Raum mitbestimmte und musikgeschichtliche Grosstaten wie die Uraufführung von Helmut Lachenmanns «Mädchen mit den Schwefelhölzern» möglich waren, ist das Haus heute weit entfernt. Für das neue Leitungsteam um den Dirigenten Kent Nagano und den scheidenden Basler Intendanten Georges Delnon gibt es viel zu tun.