O ihr elenden Götter!

Cecilia Bartoli hat für ihre vierte Pfingstsaison zwei selten gespielte Opern von Gluck und Händel ausgewählt. Musikalisch wird der darin ausgetragene Kampf zwischen Göttern und Menschen zum Fest.

Christian Wildhagen, Salzburg
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Vorsicht mit den Stimmbändern! Cecilia Bartoli «opfert» den Bariton Christopher Maltman. (Bild: Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus)

Vorsicht mit den Stimmbändern! Cecilia Bartoli «opfert» den Bariton Christopher Maltman. (Bild: Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus)

Wenn sich der Mensch wider die Götter erkühnt, geht dies nicht ohne Blessuren ab. Oft trägt nicht bloss der Sterbliche Schaden davon, sondern auch die Gottheit selbst. Sei es, dass der mündig gewordene Mensch sich gegen die Bevormundung aus oberen Rängen auflehnt und sich am Ende ganz von allem Höheren lossagt. Oder dass er sich zumindest aus den Zwängen sinnlos gewordener Rituale emanzipiert. Die Geschichte einer solchen Befreiung erzählt Christoph Willibald Glucks Oper «Iphigénie en Tauride» von 1779, die in diesem Jahr die Salzburger Pfingstfestspiele eröffnete. Wie schon in den drei vergangenen Spielzeiten zeichnete Cecilia Bartoli für diese saisonalen Festtage im Vorfeld der Sommerfestspiele verantwortlich. Und als klassische Künstler-Intendantin übernahm sie auch wieder zentrale Rollen in den Aufführungen – sehr zum Nutzen dieses kleinen, feinen Festivals.

Impresaria und Virtuosa

Die noch von Alexander Pereira eigens geschaffene Funktion einer Impresaria mit künstlerischer Verantwortung ist längst zum Markenzeichen, ja zum Erfolgsrezept der Pfingstfestspiele geworden. Cecilia Bartoli prägt, nein sie durchglüht jede der Veranstaltungen mit ihrem impulsiven Charakter und vermag damit beim Publikum Begeisterung selbst für Ausgefallenes und Abseitiges zu wecken.

Dies gilt für die spätere von Glucks beiden Iphigenien-Opern ebenso wie für die zweite grosse Pfingstpremiere, Georg Friedrich Händels Opernoratorium «Semele». Beide Werke haben, ungeachtet mehrerer Gluck- und Händel-Renaissancen, noch immer keinen festen Platz im Repertoire zurückgewonnen. Und dafür gibt es Gründe. Mit «La Bartoli» in der Titelpartie aber werden solche Einwände nebensächlich.

Stärker noch als in der szenischen Aufführung der «Iphigénie» demonstriert die Sängerin in der konzertanten «Semele», wie man ein Stück mit stimmlichen Mitteln zum Leben erweckt. Die Geschichte einer Sterblichen, die sich mit tödlichen Folgen gottgleichen Status anmasst, weil sie von der Liebe des allmächtigen Jupiter geblendet wird, schlägt sich in all ihren emotionalen Windungen und Wendungen in der vokalen Gestaltung nieder. Und weit, ungeheuerlich weit ist der Weg von der selbstverliebten Ansprache Semeles an das eigene Spiegelbild, die Bartoli in der Arie «Myself I shall adore» zum köstlichen Kabinettstückchen extemporiert, bis zu der Erkenntnis ihrer tragischen Selbstüberhebung.

Ach, hätte sie doch nie den obersten der Götter per Eid gezwungen, ihr in seiner eigentlichen Gestalt als todbringender Herr der Blitze zu erscheinen! Semeles letztes Accompagnato, «Too late I now repent», weckt nicht bloss Mitleid mit der Figur, die dank Bartolis spielerischer Ironie in ihrer Eitelkeit erträglich wird; in dieser Sterbeszene schwingt viel mehr bei ihr mit: berührende Trauer über die zerstörten Träume eines Menschen, der den Mut hatte, sich auf eine Stufe mit den Göttern zu stellen.

Vorzügliche Ensembles

Zu den Markenzeichen der Bartoli-Festspiele gehört seit Jahren, dass die Sängerin – bei Stars ihres Kalibers keineswegs selbstverständlich – starke Mitstreiter neben sich duldet. Birgit Remmert ist eine hinreissend intrigante Göttergattin Juno, Andreas Scholl eine wahre Luxusbesetzung für die kleine Rolle des Athamas. Und Charles Workman beeindruckt als verliebter Jupiter, der plötzlich menschlich fühlt und das Leben seiner Semele zu schützen trachtet, indem er nur sein «softest lightning» vom Himmel herabblitzen lässt. Doch vergebens: «She must a victim fall!»

Um die Unerbittlichkeit der Oberen geht es gut dreissig Jahre nach Händel auch bei Gluck. Iphigenie wird auf Tauris vom Skythenkönig Thoas gezwungen, als Priesterin wider Willen jeden Ankömmling den Göttern zu opfern. Thoas selbst steht unter dem Zwang eines Orakels, das ihn mit dem Tode bedroht, sollte nur ein einziger Fremder dem Gemetzel entgehen. Doch selbstredend geschieht genau dies: Die Griechen Pylades und Orest stranden auf dem Eiland und verweigern sich so lange mit Freundschaftsgesängen und Winkelzügen dem Opferungsritual, bis die Ordnung ins Wanken gerät. Und anders als bei Semele hat in letzter Minute die Gottheit ein Einsehen: Diana erscheint «ex machina» – wie Götter dies in der Oper häufiger tun – und verfügt ein «lieto fine».

Eine solche Handlung glaubhaft auf die Bühne zu stellen, ist, zumal in säkularisierten Zeiten, eine Herausforderung. Moshe Leiser und Patrice Caurier deuten in ihrer Salzburger Inszenierung eine Art modernes Flüchtlingsdrama an. Doch dieser Boat-People-Ansatz stösst so schnell an Sinn-Grenzen, dass er bald im Ungefähren versandet. Das stört freilich nicht, denn sobald Cecilia Bartoli als Iphigenie gemeinsam mit Christopher Maltman als Orest und Topi Lehtipuu als Freund Pylades auf der Bühne steht, erzählt sich das Geschehen wie von selbst – als Seelendrama.

Das Messer an der Kehle

Namentlich die Opferszene zwischen Bartoli und Maltman wird zum Höhepunkt des Abends: Nackt kniet der zur Schlachtung bestimmte Fremde vor Iphigenie, sie hat das Messer schon an seiner Kehle, als nicht etwa eine höhere Macht – wie beim Isaaks-Opfer der Bibel –, sondern das Leben selbst eingreift: Sie erkennt in ihm ihren totgeglaubten Bruder.

Orest ist als Mörder an seiner Mutter Klytämnestra schuldig geworden, doch hat er mit seiner Tat deren Mord am Stammvater Agamemnon gerächt. Nicht dieses archaische Schuld-und-Sühne-Denken klingt indes im innigen Gesang der beiden durch, sondern die schlichte Liebe zweier Geschwister, die sich über das Göttergesetz erhebt und die blutigen Gebote ausser Kraft setzt.

Im Gegensatz zur schablonenhaften Regie hat Diego Fasolis mit dem Ensemble I Barocchisti ein ausgeprägtes Gespür für die menschlichen Zwischentöne in Glucks Musik. Er bringt sie zum Leuchten, streicht die nicht einmal von Mozart übertroffene melodische Qualität heraus und ist bisweilen so mit dem Modulieren der Klangrede beschäftigt, dass sich Unschärfen in Koordination und Intonation einschleichen. Doch wie bei «Semele» am zweiten Abend wird klar: Mit solcher Intensität gespielt und gesungen wie hier, schliesst die Musik das ganze Drama zwischen Himmel und Erde in sich ein. Man muss es nur erwecken.

Im kommenden Jahr wird Cecilia Bartoli übrigens in einer neuen, für sie gänzlich ungewöhnlichen Rolle zu erleben sein: Sie wird als Maria in Leonard Bernsteins Romeo-und-Julia-Musical «West Side Story» debütieren.