Der Albtraum Mensch

Der Bühnenmagier Achim Freyer inszeniert in Mannheim die Uraufführung von Lucia Ronchettis Oper «Esame di mezzanotte». Das Stück ist eine kafkaeske Komödie, die Sängern wie Publikum einen Zerrspiegel vorhält.

Marco Frei
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Kuriose Repräsentanten des 20. Jahrhunderts in Achim Freyers bildstarker Inszenierung. (Bild: Christian Kleiner)

Kuriose Repräsentanten des 20. Jahrhunderts in Achim Freyers bildstarker Inszenierung. (Bild: Christian Kleiner)

Als Ermano Cavazzoni 1991 seinen Roman «Mitternachtsabitur», im Original «I lamenti di Giro», vorlegte, konnte er nicht ahnen, dass die Welt der Bücher einst in Gefahr geraten könnte. Heute, 25 Jahre später, steht zu befürchten, dass der Mensch wegen der umfassenden Digitalisierung von Wissen und Kunst das Bücherlesen verlernt, früher oder später. Unmündigkeit und Unsinnlichkeit werden heute schon herbeigeunkt – perfekter Nährboden für neue Katastrophen der Menschheit. Hier setzt die am Nationaltheater Mannheim uraufgeführte Oper «Esame di mezzanotte» von Lucia Ronchetti an.

Prozesse im Schloss

Das Libretto hat Cavazzoni selbst nach seinem Roman erstellt. Im Mittelpunkt steht Giro Lamenti, gesungen vom Countertenor Matthew Shaw, der seine Abiturprüfung nachholen muss – über keinen geringeren Stoff als das 20. Jahrhundert. In einer unterirdischen Bibliothek, die nur nachts geöffnet ist, erhofft er sich Abhilfe. Er stösst dort indes auf viel Bizarres und sonst auf – nichts. Während der Roman noch den Albtraum von Bildungsbürgern entwarf, die in schlauen Büchern vergeblich nach Wissen fahnden, mutiert die geisterhafte Bibliothek in der Oper zu einem kafkaesken Schloss. Hier ist der Mensch Prüfungen ausgesetzt, die wiederum an Kafka und seinen «Prozess» erinnern.

In Mannheim wurden die Zuschauer in diesen Albtraum direkt hineingezogen, zumal Regisseur und Ausstatter Achim Freyer die Bühne bis direkt zum Dirigenten verlängerte. Unten sassen das Orchester und ein Teil des Haus-Chores, oben spukten Quälgeister der menschlichen Gesellschaft durch die Szenerie. So gerierte sich der Bibliotheksdirektor Rasorio (Magnus Piontek) als bürokratischer Paragrafenreiter, seine zwei Gehilfen waren stumme Clowns. Dazu flatterte die ohnehin flatterhafte Bibliothekarin Iris durch den Theaterhimmel (Vera Lotte Böcker). Sie säuselte viel Sinnentleertes vor sich hin und machte damit dem schlaflosen Professor Natale (Ziad Nehme) mächtig Konkurrenz. Aus einem überdimensionierten Buch lugte die «Stimme der ungelesenen Schriften» hervor (gesungen vom Kinderchor), und die schrille Lehrerin Albonea Bucato (Philipp Alexander Mehr) polterte mit eckigen Brüsten über die Bühne. Sie ist die Richterin in diesem Prozess, und wer nicht zu schätzen weiss, dass sie «von ganz oben» protegiert wird, fällt gnadenlos durch.

Ohne Allerweltsklimbim

Bestechung und Bestechlichkeit gedeihen eben nicht nur im Fussball ganz prächtig. Giro Lamentis hyperaktiv-nervöse Zuckungen schienen hingegen die reizüberflutete, rastlose Kommunikationsgesellschaft zu karikieren. Wie in der Commedia dell'Arte entwarf Freyer mit seinen bunten Kostümen und übergrossen Figuren keine Subjekte, sondern Menschentypen. Das passte zur Musik Ronchettis, die selber «entindividualisiert» wirkt – weil sie unterschiedliche Mittel, Stile und Zitate aus der Musikgeschichte vereint.

Im Gegensatz zu anderen neueren Operngrotesken verfällt Ronchetti aber nicht dem postmodernen Allerweltsklimbim, der in diesem Genre schwer en vogue ist. Jedes Zitat dient der Dramaturgie, und die grosse Besetzung wird differenziert eingesetzt. Obwohl das Werk Chor, Stimmen und Vokalensemble vorschreibt, zudem ein Orchester mit umfangreichem Schlagwerk und Klavier, verzichtet Ronchetti auf Bombast. Vielfach entwirft sie reduzierte Klanginstallationen, was unter der Leitung von Johannes Kalitzke von allen Beteiligten überaus feinsinnig verlebendigt wurde.

Historische Kontinuitäten

Mit dieser klanglichen Verdichtung, die sich mit dem Zitathaften eint, wurde zugleich ein historisches Gedächtnis hörbar, das die Menschentypen Freyers verloren haben. In Giro Lamentis Suche nach einer Geschichte des 20. Jahrhunderts verzichtete Freyer auf die einschlägigen Monster – kein Hitler, kein Stalin –, um die Verantwortung des Einzelnen in den Fokus zu rücken. Damit sich gefährliche Tendenzen nicht wiederholen, muss das historische Gedächtnis wachgehalten werden. Es schlummert auch in den Büchern, die ungelesen vermodern – tief unten, im Keller.