Im Erzkrater der Schuld

Der geschasste Wiener Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann feiert mit Beethovens Freiheitsoper sein Comeback am Grand Théâtre de Genève. Das Dirigat von Pinchas Steinberg unterstützt ihn kongenial.

Christian Wildhagen
Drucken
Siobhan Stagg als Marzelline und Elena Pankratova als Leonore vor dem Chor der Gefangenen. (Bild: Carole Parodi)

Siobhan Stagg als Marzelline und Elena Pankratova als Leonore vor dem Chor der Gefangenen. (Bild: Carole Parodi)

Zuletzt gab es wenig Erfreuliches zu berichten über die Karriere von Matthias Hartmann. Der Pulverdampf nach seinem erzwungenen Abgang als Wiener Burgtheaterdirektor ist noch immer nicht verraucht. Gerichtsverfahren drohen. Gleichzeitig halten sich Gerüchte, Hartmann plane eine Rückkehr an das einst von ihm so erfolgreich geleitete Schauspielhaus Bochum – was dort freilich auch nicht auf ungetrübte Begeisterung trifft. In einer solchen Phase der Neuorientierung hilft die Besinnung auf die eigentliche künstlerische Arbeit, am besten etwas abseits des Schauspielmetiers, am besten in der Oper. Hier ist Hartmann mit einigen grundsoliden Arbeiten, etwa in Zürich, in angenehmer Erinnerung. Jetzt hat er sich mit einer Neuinszenierung von Ludwig van Beethovens «Fidelio» am Grand Théâtre de Genève zurückgemeldet. Die Produktion kann – und das ist bei diesem Werk eine besondere Leistung – auf ganzer Linie überzeugen.

Der Atem der Humanität

Beträchtlichen Anteil an der Wirkung der Genfer Aufführung hat das eindrucksvolle Bühnenbild von Raimund Orfeo Voigt. Der Einfluss von Voigts Lehrern Erich Wonder und Robert Wilson wird in der Klarheit der Raumgestaltung und dem suggestiven Einsatz des Lichtes (Tamás Bányai) spürbar. Voigt geht im ersten Akt von einem hermetischen, kalten Innenraum aus, der ein Gefängnishof sein mag, vielleicht aber auch nicht mehr als eben eine leere Bühne – als Hinweis darauf, dass in dieser Oper vorrangig Ideen verhandelt werden, Menschheitsfragen, hohe Ideale, die es mit Inhalten zu füllen gilt. Die biedere Realität der Singspielhandlung bricht in diesen abstrakten Gedankenraum nur in Gestalt von Bühnenwagen ein, die von allen fünf Seiten aus den Wänden fahren: eine schmuddelige Waschküche für die Anstaltskleidung der Häftlinge, die allesamt ein Zielkreuz in Guantánamo-Orange auf der Brust tragen (Kostüme: Tina Kloempken); eine schwebende Überwachungszentrale mit böse blinkenden Monitoren; ein miefiges Gefängniskasino samt Spielautomaten.

Das wahre Ausmass des Unrechts in diesen Mauern offenbart sich erst im zweiten Akt. Florestans Verlies dringt in beklemmendem Naturalismus aus der Unterbühne herauf, ein matschiges Dreckloch, ein Erzkrater der Schuld, in dem der Gefangene aller Gefangenen vor sich hin vegetiert. Am Ende, wenn sich Beethovens grosse Freiheitsutopie Bahn bricht, werden die Häftlinge – der ausgezeichnete Genfer Haus-Chor – diesen Krater mit Erde und ihren Kleidern zu füllen versuchen. Florestan (mit verspannter Höhe: Christian Elsner) wirft dem verlogenen Politiker Pizarro (schauspielerisch überragend: Detlef Roth), der nun dort unten eingekerkert werden soll, mit letzter Kraft sogar sein Rednerpult hinterher. Dies wirkt allerdings als Schlusspointe, zumal nach Beethovens Jubeltönen, ein wenig aufgesetzt. Denn klar ist: Ein Pizarro wird selbst aus diesem Fiasko noch irgendwie einen Ausweg finden.

Hartmanns Regie hält sonst viel feiner die Balance zwischen der schlichten Handlung und den stärker oratorischen Teilen, in denen die Oper zum Ideendrama wird: die eigentliche Herausforderung für jeden «Fidelio»-Regisseur. In solchen Momenten, in denen Beethovens Musik mit dem Atem ihrer Humanität ohnehin jede Szenerie in den Schatten stellt, hat Hartmann den Mut, die Figuren – wie beim betörend schön gesungenen Quartett «Mir wird so wunderbar» – aus ihren Rollen heraus und auf die Vorderbühne treten zu lassen. Oder er beschränkt sich, wie bei Leonores Arie, auf feine Zeichen: Leonore ergreift eine Blume, die der Demagoge Pizarro aus dem Blumenschmuck seiner Rednertribüne gerissen hat, als er in «Ha, welch ein Augenblick» gründlich aus der Rolle gefallen ist und sein wahres Gesicht gezeigt hat. Im Licht eines einzigen Scheinwerfers singt Leonore ihr «Hoffnung, lass den letzten Stern», allein, auf dem Souffleurkasten, und jedem wird deutlich, um welche existenziellen Dimensionen es hier geht.

Einheit in der Vielheit

Pinchas Steinberg unterstützt diesen Mut der Regie zum unverhohlenen Idealismus, indem er mit dem Orchestre de la Suisse Romande die Singspielteile eher in die Nähe Mozarts rückt, während Beethovens Weltanschauungsmusik die Wucht und den hohen Ton der späten Missa Solemnis besitzt. Dass ihm das Werk bei dieser stilistischen Gegensätzlichkeit nicht auseinanderfällt, sondern eine radikal modern gedachte Einheit in der Vielheit bewahrt, ist der besondere Reiz von Steinbergs Interpretation. Das ausgewogene Ensemble, namentlich Albert Dohmen als reflektierter Biedermann Rocco, und nicht zuletzt die intensive Leonore von Elena Pankratova, deren Sopran zwischen lyrischem und hochdramatischem Fach changiert, fügen sich überzeugend in dieses Konzept.