Was war denn da?

Wie Salvatore Sciarrinos «Tödliche Blume» zu Beginn erhielt am Ende der Wiener Festwochen Béla Bartóks «Blaubart» eine Ergänzung. Dazwischen gab es ein Wochenende für Mieczysław Weinberg.

Peter Hagmann
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Blaubarts dunkles Frauen-Geheimnis kommt dank Judith (Nora Gubisch) in Wien ans Licht. (Bild: Bernd Uhlrig)

Blaubarts dunkles Frauen-Geheimnis kommt dank Judith (Nora Gubisch) in Wien ans Licht. (Bild: Bernd Uhlrig)

Man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können, so gespannt war die Aufmerksamkeit im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins, als Gidon Kremer und Martha Argerich die Violinsonate Nr. 5 von Mieczysław Weinberg aufschäumen liessen. Hatten sie im Kopfsatz beängstigend fahle Seiten gezeigt – der Geiger mit seinem Spiel ohne Vibrato, die Pianistin mit ihrem gehauchten Pianissimo –, so liessen sie im zweiten Satz der Emotion ebenso freien Lauf wie ihrer virtuosen Spielfreude. Da erschien Musik, die vergessen war, mit einem Mal in ganzer Grösse – zumal Kremer an diesem Abend in alter Frische erschien und Argerich so frisch wirkte, als wäre sie alterslos. Für die Fortsetzung lag die Messlatte damit entmutigend hoch, doch Yulianna Avdeeva liess sich nicht beirren. Mit einem Temperament sondergleichen und mit phänomenaler Technik meisterte sie die Klippen von Dmitri Schostakowitschs erstem Klavierkonzert, jenem spritzigen, witzigen Werk, das als Begleitung für das Soloinstrument nur Streicher vorsieht, dafür aber eine Trompete einsetzt, die das Geschehen entwaffnend lakonisch kommentiert (was Gábor Boldoczki ausgezeichnet tat).

Kunstsinn und Exzellenz

Mit von der Partie war hier die vom Konzertmeister gemeinsam mit der Solistin geleitete Kremerata Baltica. Das um Kremer versammelte Streicherensemble vermittelte ganz neue Vorstellungen davon, was ein Kammerorchester sein kann. Auch in Weinbergs Kammersinfonie Nr. 4, für deren Wiedergabe eine zierliche junge Frau ans Dirigentenpult trat. Mirga Gražynitė-Tyla, erste Kapellmeisterin in Bern und künftige Musikdirektorin am Salzburger Landestheater, arbeitet mit sparsamer Körpersprache, sie setzt eher auf Ausstrahlung – und die ist so bezwingend, dass das in solistischem Geist musizierende Ensemble zu Höchstleistungen fand. Beim «Antiformalistischen Rayok» von Schostakowitsch waren die Musiker dann wieder unter sich – dafür zusammen mit dem Bass Alexei Mochalov, der hier nicht weniger als vier Rollen verkörperte. Er gab den Vorsitzenden einer Versammlung sowjetischer Kulturfunktionäre, vor denen drei Redner in entsetzlichen Plattitüden die Prinzipien der von Stalin nach 1936 verordneten musikalischen Ästhetik exponierten: eine ungeheuer freche, somit äusserst gewagte Parodie auf das Spiessertum der Machthaber, die aus verständlichen Gründen in der Schublade blieb und erst postum 1989 zur Uraufführung kam.

Das war der Abschluss eines Wochenendes, an dem die Wiener Festwochen das Schaffen des Komponisten Mieczysław Weinberg erkundeten. Eine verdienstvolle Tat – und nicht nur das. Der stupende Abschlussabend des Weinberg-Projekts liess auch wieder erkennen, was überzeugende, nämlich kunstvoll erdachte Programmgestaltung in Verbindung mit interpretatorischer Exzellenz vermag. So war es stets bei Markus Hinterhäuser, und so ist es auch jetzt, da er die Wiener Festwochen leitet. Weinberg war ein ausserordentlich vielseitiger Komponist, dessen Œuvre unter schrecklichsten Lebensbedingungen entstanden ist. Verfolgt und vertrieben, später von Schostakowitsch gefördert, ja beschützt, erlangte er wenig Aufmerksamkeit; erst jetzt, fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod 1996, wird seine Musik ans Licht geholt. Die Erscheinung Weinbergs hat zu tun mit der Kultur des Erinnerns, der die Wiener Festwochen dieses Jahr nachgegangen sind. Etwa auch in «Herzog Blaubarts Burg», dem Operneinakter von Béla Bartók, in dem sich Judith ins Labyrinth der Vergangenheit ihres neuen Geliebten aufmacht.

Sehr langsam lässt die Regisseurin Andrea Breth im Theater an der Wien den Vorhang hochgehen, und wie er oben ist, folgt erst einmal Stille. In schwachem Licht wird eine Männerbüste sichtbar, in tiefster Stimmlage erklingt der Prolog, den Bartók seiner Partitur vorangestellt hat, und dann erhebt sich aus dem Dunkel diese wunderbare Musik. Das ist Theater vom Feinsten, kraftvoll erfunden, fern aller Mätzchen, von eindringlicher Wirkung. Und getragen durch die enorm kultivierte, aber auch äusserst pointierte instrumentale Grundierung, für die das hellwache Gustav-Mahler-Jugendorchester unter der Leitung von Kent Nagano sorgt. Auf der Bühne von Martin Zehetgruber und in den Kostümen von Eva Dessecker herrschen das Grau verlebten Lebens und die Trostlosigkeit bröselnden Betons. Wilde Energien brodeln dagegen zwischen Blaubart, den Gábor Bretz mit sagenhafter Tiefe und glänzendem Obertonreichtum versieht, und der aufbegehrenden Judith von Nora Gubisch. Hier ist eine junge Frau unwiderstehlich angezogen und zugleich mit aller Macht bestrebt, ihre Autonomie zu bewahren.

Sie will den Code knacken, darum verlangt sie Schlüssel um Schlüssel. Was sich hinter den Türen offenbart, bekommt man weniger zu sehen als zu hören. Als die fünfte Tür aufgeht, wie sich in C-Dur und dreifachem Forte mit Orgel die Weite von Blaubarts Landen öffnet, ist ein grandioser Höhepunkt erreicht. Noch stärker aber wirken die Bilder der Verlorenheit, letztlich der Beziehungslosigkeit, von der die Oper Bartóks kündet.

Beklemmung und Erlösung

Wie es zu Beginn der Wiener Festwochen, vor dem Operneinakter «Luci mie traditrici» von Salvatore Sciarrino, ein von dem Regisseur Achim Freyer erdachtes Vorspiel gegeben hatte, kam es hier, nach Bartóks «Blaubart», zu einem Nachspiel. Zu einem der besonderen Art: Ein riesiger, hoher Raum ist zu sehen, holzgetäfelt, von kaltem Neonlicht erhellt. An den Wänden liegen Schneereste, im Saal verteilt sind altmodische Heizkörper, bei ihnen einfache Holzstühle, und auf ihnen neun abgewrackte Männer, von denen einige schon im ersten Teil des Abends mitgewirkt hatten. Wie die drei Frauen Blaubarts, die im Hintergrund artig auf einem Sofa sitzen, bleiben sie stumm und reglos. Von Zeit zu Zeit erhebt sich einer, um unverständliche Laute oder eine Banalität hervorzustossen. Schauerlich, dieses Pfrundhaus oder diese psychiatrische Anstalt. Je länger das Bild dauert – und es dauert quälend lang –, desto unerträglicher wird es. Bis dann endlich, aus einer in der Tiefe der Bühne gelegenen Tür, ganz leise und aus weiter Ferne, die «Geistervariationen» in Es-Dur von Robert Schumann erklingen: Elisabeth Leonskaja spielt sie wunderbar poetisch und verinnerlicht. Es ist jenes Stück, an dem Schumann im Februar 1854 schrieb, bevor er sich, gefangen in sich selbst, in den Rhein stürzte. Schönste Musik, geboren aus der grössten Not – in dem Nachspiel Andrea Breths hat das beklemmenden wie erlösenden Ausdruck gefunden.