Die Geburt der Oper aus dem Tanz

Wer je den Traum vom Gesamtkunstwerk träumte, bei Sasha Waltz' choreografischer Inszenierung von Monteverdis «Orfeo» wird er Wirklichkeit. Nun ist die Produktion im Festspielhaus Baden-Baden zu sehen.

Lotte Thaler
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Auf dem Weg in die Unterwelt: Orpheus (Georg Nigl) rudert lieber selbst hinüber. (Bild: Monika Rittershaus)

Auf dem Weg in die Unterwelt: Orpheus (Georg Nigl) rudert lieber selbst hinüber. (Bild: Monika Rittershaus)

Eine x-beliebige Oper in ein gerade aktuelles Krisengebiet zu verlegen oder ihr eine dramaturgische Idee überzustülpen, die von der Musik nicht eingelöst wird, gehört zum Standardrepertoire auf vielen Opernbühnen. Wer sich diesen Spielregeln entzieht und sich ohne willkürliche Zutaten auf das Werk konzentriert, gerät leicht in den Verdacht der Verharmlosung. Auch die Choreografin Sasha Waltz musste diese Erfahrung letztes Jahr nach der Premiere ihrer Version von Claudio Monteverdis «Orfeo» in Amsterdam machen.

Nur Text, kein Kontext

Nach der deutschen Erstaufführung im Festspielhaus Baden-Baden kam man dagegen zu einem ganz anderen Schluss: Wahrscheinlich können nur Produktionen wie diese aus der Sackgasse einer auf blosse Tagesaktualität fixierten Opernregie hinausführen, weil es hier allein um den Text und nicht um Kontexte geht. Gerade in der scheinbaren Selbstbeschränkung trifft Sasha Waltz den Nerv des Stücks: Monteverdis Oper über die Macht der Musik setzt sie als Musiktheater sui generis um. Die Instrumente und ihre Spieler werden selbst theatralisiert und zu Handlungsträgern.

Doppelchörig ist das Freiburger Barockorchester auf der Bühne postiert, wobei schon die Chitarronen, Lauten, Posaunen und Zinken eine Art Bühnenbild abgeben. Die Musiker tragen Kostüme, spielen im Stehen, sofern nicht das Sitzen zur Ausführung des Instruments notwendig ist, werden in die Gesamtchoreografie einbezogen und haben, wie alle anderen Protagonisten, ihre Auftritte und Abgänge. Gleich im Prolog steht die Harfenistin Johanna Seitz der personifizierten Musica (Anna Lucia Richter) zur Seite, als legitime Stellvertreterin von Orpheus.

Die Sänger im schwarzen Anzug und offenen weissen Hemd tanzen, die Tänzer im Renaissance-Gewand singen. Und sogar der Dirigent Pablo Heras-Casado, der sich bei Monteverdi merklich wohler fühlt als unlängst mit Verdis «Traviata» bei den Pfingstfestspielen, hat sein eigenes Kostüm und tritt, wie alle anderen auch, barfuss auf.

Ein Gesamtkunstwerk

Wer je den Traum vom Gesamtkunstwerk träumte – hier wird er einer Weise Wirklichkeit, die eine neue ästhetische Qualität erreicht. Musik, Tanz, Gesang, Bühnenbild (Alexander Schwarz), Kostüme (Beate Borrmann) und Licht (Martin Hauck) dienen der übergeordneten Idee einer Synthese, die zugleich eine Feier der Künste bedeutet – ohne Angst vor dem desavouierten Begriff der Schönheit, zumal in einer gelegentlich hineinspielenden Variante als japanischer Scherenschnitt.

Enorm ist die Fallhöhe aus dem ersten in den zweiten Akt, aus der Renaissance-Feier des Glücks und der Liebe in den Schmerz nach Eurydikes Tod (ebenfalls Anna Lucia Richter). Auf Ausgelassenheit folgt Leere, auf tänzerische Choreografie die geknickten Bewegungen einer Trauergemeinde. Wenn die tote Eurydike von der Bühne getragen wird, hat auch der Dirigent seinen Auftritt: Er verlässt seine zentrale Position vor der Bühne und begibt sich zu den Musikern auf der rechten Bühnenseite, als wolle er die Klagenden nicht allein lassen.

Grossartig, wie Sasha Waltz die Langsamkeit des dritten Aktes inszeniert, in dem Orpheus (Georg Nigl) Charon, den Fährmann in die Unterwelt, bezwingt: Das grosse Holzportal, das die Bühne beherrscht, hat sich geöffnet, man sieht Charon (Douglas Williams) fast wie eine Stummfilmfigur in seinem Kahn in einem neblig-grauen Unort, umgeben von neugierigen Untoten. Im Verlauf seiner Arie «Possente spirto» dringt Orpheus immer weiter in die Unterwelt ein und hat andererseits mit seinem virtuosen Ziergesang Charon aus dem Schattenreich gelockt. Anschaulicher lässt sich die Macht der Musik kaum darstellen.

Voller Körpereinsatz

Der vierte Akt gehört dagegen dem Ballett, beginnend mit einer rätselhaften stummen Szene mit vertrockneten Zweigen, die ins Feuer geworfen werden, und zwei Pas de deux: zwischen Pluto (Konstantin Wolf) und Proserpina (Luciana Mancini) und zwischen Orpheus und Eurydike, die auf seinen Schultern sitzend ans Tageslicht gelangen soll. Hier waren dann auch die Grenzen der Sänger-Tänzer erreicht, die unter dem Gewicht des Ballett-Partners bei vollem Körpereinsatz noch ihre Stimme bewahren mussten. Am Schluss mischten sich die Musiker unter den Chor und die Tänzer, um gemeinsam zu feiern: die Geburt der Oper aus dem Tanz.