Der Schatten des Doppelgängers

Die Mailänder Scala bricht eine Lanze für Gioachino Rossinis «Otello». Doch es wäre mehr vonnöten als eine Handvoll Spitzensänger, damit das Stück aus dem Schatten von Verdis Meisterwerk treten kann.

Christian Wildhagen
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Bekannte Gegenspieler, veränderte Konstellation: Otello (Gregory Kunde) und Jago (Edgardo Rocha). (Bild: PD)

Bekannte Gegenspieler, veränderte Konstellation: Otello (Gregory Kunde) und Jago (Edgardo Rocha). (Bild: PD)

Es kann immer nur einen geben. Nur einen Falstaff, nur einen singenden Friseur in Sevilla und ganz sicher nur einen Tristan. Die Musikgeschichte ist erbarmungslos in ihrer Auswahl. Und sie verfährt kaum weniger selektiv bei Opern mit weiblichen Hauptfiguren: keine zweite Salome, keine zweite Mimì, keine Turandot. So belegen es die Spielpläne der Opernhäuser Jahr um Jahr. Doch schon sind wir hereingefallen: Von allen genannten Stoffen verzeichnen die Archive mindestens eine weitere Fassung für das Musiktheater. Es gibt freilich nur wenige mutige Bühnen, die sich ab und an eben auch der «Bohème» von Leoncavallo oder des «Barbiere» von Paisiello erinnern. Ausgerechnet die Mailänder Scala, sonst eine Bastion des klassischen Kernrepertoires, hat sich jetzt als Ausgräberin betätigt und eine weitere dieser Alternativ-Vertonungen in Starbesetzung auf die Bühne gebracht: Gioachino Rossinis «Otello ossia Il Moro di Venezia».

Hautfarbe Nebensache

Exakt 71 Jahre liegen zwischen diesem «Otello» aus dem Jahr 1816 und der vorletzten Oper von Giuseppe Verdi, die 1887 hier an der Scala uraufgeführt wurde und heute alle anderen Versionen in den Schatten stellt, etliche Versionen für das Tanztheater eingerechnet. Sogar die gemeinsame Vorlage, William Shakespeares «Tragedy of Othello, The Moor of Venice», erscheint mittlerweile – nach erregten Debatten um das «Blackfacing», also die Darstellung schwarzer Menschen durch dunkel geschminkte weisse Schauspieler – nicht mehr so unangefochten wie Verdis spätes Opernmeisterwerk. Rossinis deutlich frühere Vertonung ist zumindest in der Hinsicht unproblematisch: Sie konzentriert sich derart auf die emotionalen Spannungen zwischen nicht weniger als drei grundverschiedenen Männern, die allesamt dieselbe Frau umwerben, dass die Hautfarbe des Titelhelden als Handlungsmotiv zur Nebensache wird.

Obendrein singen alle drei auch noch in der gleichen Stimmlage, nämlich Tenor. Dies ist der Reiz von Rossinis Werk – und dessen grösste Hypothek. Denn allenfalls Häuser wie die Scala oder die New Yorker Met können gleich drei Spitzenvertreter des raren leichteren Belcanto-Fachs aufbieten. Mit Gregory Kunde als Otello, Juan Diego Flórez als dessen Gegenspieler Rodrigo und Edgardo Rocha als Jago ist in Mailand eine exzellente Lösung dieses Besetzungsproblems gelungen. Namentlich der feine klangliche Kontrast zwischen Flórez, einem genuinen «Tenore di grazia», und dem geringfügig schwereren Gregory Kunde macht den Reiz dieser Aufführung aus. Zumal Rossini die Sympathien der Zuhörer lange geschickt in der Schwebe hält: Hätte nicht der leidenschaftliche und so eindringlich an seiner Liebe leidende Rodrigo die Zuneigung der spröden Desdemona ebenso verdient wie der stolze Otello, der sich ihrer in seiner Kriegsheldeneitelkeit wiederum eine Spur zu sicher fühlt?

Jago, der Dritte im Kontrahentenbunde, hat zwar kein so wirkungsvoll entlarvendes «Credo in un Dio crudel» zu bieten wie später Verdis Erzbösewicht. Dass seiner Rolle jegliches dämonisches Potenzial abgeht, kompensiert Edgardo Rocha dennoch geschickt, indem er den Strippenzieher als einen auch stimmlich ewig lächelnden Biedermann charakterisiert, der seelenruhig das Netz um Otello, Rodrigo und Desdemona zusammenzieht. Was ihn antreibt dabei – ob grundböser Hass (wie bei Verdi), verletzter militärischer Stolz (wie bei Shakespeare) oder wirklich das aussichtslose Begehren nach Desdemona, wie sich im vergifteten Freundschaftsduett mit Rodrigo «Calma sui labbri tuoi» andeutet –, bleibt am Ende Jagos finsteres Geheimnis.

Weltumarmungsgesten

Überhaupt tragen sich die Figuren in dieser Oper mit Geheimnissen, die ihnen das Leben nicht leichter machen. So hat dieser italienische Otello seine Desdemona, wie in der Vorlage, heimlich geheiratet – ohne Wissen ihres Vaters Emilio, den Roberto Tagliavini mit eindrucksvollem Bass als uneinsichtigen Familientyrannen zeichnet. Seither quält sich Desdemona mit selbstzerstörerischen Angstbegriffen wie «infida», «errore» und «gelosia», die manchmal auch in arabischen Schriftzeichen auf Schiefertafeln herumgetragen werden. Dies bleibt freilich der einzige vertiefende und reichlich kryptische Einfall der Inszenierung von Jürgen Flimm, die sich im Übrigen ganz auf die Wirkung des suggestiven Einheitsbühnenraums verlässt, der auf einen Entwurf von Anselm Kiefer zurückgeht.

Die Personenführung wirkt hingegen so, als hätte das Produktionsteam irgendwann im Verlauf der Proben beschlossen, die Sänger nicht weiter bei der Bewältigung ihrer vokalen Herausforderungen zu stören. Da wird so inbrünstig mit den Händen gerungen, jede Aussage mit Schmachtblick und Weltumarmungsgesten unterstrichen, als habe die Regie den Herz-Schmerz-Stil theatraler Darstellungen aus dem 19. Jahrhundert parodieren wollen. Nur ist dies hier wohl gar nicht als Parodie gemeint.

Die Solisten nutzen das Fehlen einer szenischen Anleitung für ausgedehnte Ausflüge an den vorderen Bühnenrand – was man ihnen aus akustischer Sicht nicht einmal verdenken kann; denn die leichteren Belcanto-Stimmen stossen in der riesigen Scala an naturgegebene Grenzen. Sie nutzen den Freiraum aber auch für nahezu tadellose sängerische Leistungen, was bei dieser spezifischen Opernform mehr ist als die halbe Miete. Gleichwohl haftet den beeindruckend sicher und intonationsrein bewältigten Duellen um das hohe C, die Kunde und Flórez mit wachsender Hingabe austragen, etwas Artifizielles an. Die Vokalakrobatik wird zum Selbstzweck, da sie kaum eingebunden ist in die Formung eines glaubwürdigen und lebendigen Bühnencharakters.

Wie überzeugend es wirken kann, wenn musikalische und szenische Gestaltung ineinandergreifen und sich gegenseitig erweitern, zeigt einzig die Sterbeszene der Desdemona. Olga Peretyatko, zuvor durchaus der stimmlichen Exaltationen fähig, bleibt hier ganz bei sich. Hingegossen wie in einem Gemälde gleitet sie auf schwarzer Trauergondel herein und singt mit anrührend verschlanktem Sopran ihr «Lied von der Weide» und ihr Abendgebet. Im Hintergrund schwebt währenddessen die Soloharfenistin des Scala-Orchesters auf einem Bühnenwagen langsam von links nach rechts – ein Moment von zarter, leicht surreal gebrochener Schönheit, der offenlegt, welche Chancen an diesem Abend ungenutzt blieben.

Kein Ersatz für Gardiner

Dies gilt nicht zuletzt für den Dirigenten Muhai Tang, der den ursprünglich vorgesehenen John Eliot Gardiner am Pult ersetzte. Tang bereitete den Sängern klanglich das Feld, aber er setzte kaum künstlerische Akzente, weder in der Wahl der Tempi, die auf Dauer gleichförmig blieben, noch in der Entwicklung dramatischer Spannungsverläufe. Solche nachschöpferischen Hilfestellungen wären aber dringend geboten, um diesen «Otello» aus dem Schatten seines späteren und ungleich grösseren Doppelgängers treten zu lassen.