Jihadisten im Serail

Die provenzalischen Opernfestspiele bieten heuer zwei Neuproduktionen, deren eine routiniert, ja uninspiriert anmutet, derweil die andere zu stimulieren und stellenweise gar zu faszinieren vermag.

Marc Zitzmann
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Stelldichein hinterm Wüstenzelt: Mozarts Oper «Die Entführung aus dem Serail» spielt beim Festival in Aix an ungewohntem Ort. (Bild: Pascal Victor)

Stelldichein hinterm Wüstenzelt: Mozarts Oper «Die Entführung aus dem Serail» spielt beim Festival in Aix an ungewohntem Ort. (Bild: Pascal Victor)

Glanz und Elend des Opernbetriebs. Die beiden Neuproduktionen des Festival international d'art lyrique d'Aix-en-Provence zeigen, wie schmal der Grat zwischen Gelingen und Misslingen ist. Zumal ihr Ausgangsmaterial sich gut vergleichen lässt: hier wie da ein Repertoirestück des 18. Jahrhunderts, ein Regieansatz, der dezidiert, ja unzimperlich auf «Aktualisierung» abzielt, dazu jeweils das Freiburger Barockorchester sowie der Chor des Ensembles Music Aeterna im Orchestergraben. Doch zwischen der Aufführung von Händels «Alcina» im Grand Théâtre de Provence und jener von Mozarts «Entführung aus dem Serail» im Théâtre de l'Archevêché klafft ein Abgrund.

Plumpe Buchstäblichkeit

Schwachpunkt der «Alcina»-Produktion, mit der am 2. Juli die 67. Ausgabe der Festspiele eröffnet wurden, ist zuvörderst Katie Mitchell s Inszenierung. Die Britin kann, wie viele Regisseure, nichts mit Barockopern anfangen, die eine Da-capo-Arie an die andere reihen. So mogelt sie sich durch: mit betriebsamer Illustration dicht am Text entlang und mit selbstzweckhafter «Aktualisierung», die mehr Verwirrung stiftet als Erhellung. Gleich zu Beginn etwa betreten die als Mann verkleidete Bradamante und ihr Tutor die Insel der Zauberin Alcina, hier von der Bühnenbildnerin Chloe Lamford in das Schlafgemach eines Hotels für Gäste mit viel Geld und wenig Geschmack verwandelt. Die beiden sind auf Mission: Sie suchen Bradamantes verschollenen Verlobten Ruggiero – also steckt Mitchell sie in ein Spezialkommando-Outfit und drückt ihnen Schusswaffen in die Hand. Das weckt beim Zuschauer Assoziationen an Actionfilme – die freilich sofort ruiniert werden, als Alcinas Schwester Morgana den beiden freundlich entgegentritt und nicht im Mindesten verwundert ist, zwischen Stilmöbeln falsche Agenten vorzufinden.

Das Beispiel ist emblematisch für die ganze Inszenierung. Mitchell lässt sich durch einzelne Elemente des Librettos – auf die Musik, ihre Strukturen und Affektlagen nimmt sie gar nicht erst Bezug – zu Bildern und Handlungen inspirieren. Aber ihre Imagination klebt entweder flach am Buchstaben – die Phiole der Zauberin ist hier tatsächlich ein Fläschchen voll bläulicher Flüssigkeit – oder erfindet bloss plumpe szenische Äquivalente für den Text. Etwa die besagten Uniformen, die mit der Subtilität eines Holzhammers den geheimen Charakter von Bradamantes Mission herausstreichen. Oder die sadomasochistischen Spielchen, die Morgana ihren wechselnden Liebhabern aufzwingt (und die hier, wie fast immer Sexszenen auf Theaterbrettern, mit lächelnd-lustloser Ungelenkigkeit ausgeführt werden). Wir verstehen den Fingerzeig: Dieses Frauenzimmer ist eine Schlampe.

Nur: Jedes Bild, jede Handlung, die man auf der Bühne sieht, löst einerseits Erwartungen und Vorstellungen aus – embryonale Szenarien im Geiste des Zuschauers, welche die Regisseurin dann aber nicht einmal ansatzweise steuert; und tritt anderseits in Relation zu weiteren Bildern und Handlungen – wobei sich im vorliegenden Fall kein sinnstiftendes Beziehungsnetz entspinnt, sondern bloss der Eindruck von Beliebigkeit einstellt. Mitchells kunterbunte Steinchen bleiben ein amorphes Häufchen, statt sich zu einem Mosaikbild zusammenzusetzen. Kommt hinzu, dass Nebenhandlungen fast durchweg die eigentliche Aktion stören: Links, rechts, über oder unter dem Raum, in dem gerade eine Arie gesungen wird, macht jemand das Bett, trägt Gegenstände durch den Raum oder vertieft sich in Lektüre. Eine Dauerbeschäftigung für die Augen – nicht jedoch für die grauen Zellen.

In musikalischer Hinsicht hat die Aufführung mehr Konsistenz. Patricia Petibon geht die Hauptrolle elegisch, tonschön und rhythmisch sehr frei an. Der Stimmansatz ist kaum hörbar (der punktierte Siciliano-Rhythmus ihrer Schlussarie freilich ebenso wenig), umgekehrt verhaucht vieles im Pianissimo. Mehr Liebende – und Leidende – als Luder, fehlt es ihrer Zauberin an Biss, zumal in der Furor-Arie «Ma quando tornerai». Philippe Jaroussky wirft sich seinerseits als Alcinas zeitweiliger Geliebter Ruggiero mit Verve in die Koloraturen seiner «Tigerin-Arie», phrasiert aber auch seine melancholische Meditation «Verdi prati» mit ergreifender Schlichtheit. Die übrigen Rollen sind kompetent besetzt; Andrea Marcon allerdings animiert das Freiburger Barockorchester zu einem Spiel, das weder sonderlich sprechend tönt noch dynamisch und farblich ausdifferenziert.

Im Schatten der schwarzen Fahne

Ganz anders die Leistung desselben Klangkörpers am folgenden Abend. Jérémie Rhorer steht am Pult – und plötzlich irisiert das Farbspektrum, deklamiert die Phrasierung, vibriert die Spannung. Wie virtuos, wie wendig, wie wunderbar weich das Ensemble da tönt! Nicht alles ist perfekt: Der ersten Oboistin gerät der exponierte Anfangston von Konstanzes Arie «Ach, ich liebte» schmerzhaft zu tief, aber wir sind im Theater, in der Türkei – mitten im turbulenten Leben! Während der Ouvertüre und der ersten Nummern schwebt man gar auf Wolken. Daniel Behle (Belmonte) – solide Stütze, lichtes Timbre, schwache Strahlkraft, aber starke Gesangskultur – bewältigt die Koloraturen von «O wie ängstlich» locker und lässt es nur gelegentlich an Schmelz fehlen. Franz Josef Selig (Osmin) singt sein Auftrittslied und die erste Arie gleichsam zwischen den Zähnen, im Sprechton und mit gebändigter Kraft – aber was für Wonneschauer, sobald er ein kerniges Forte aufblühen lässt!

Beim Allegro assai von «Erst geköpft, dann gehangen» bleibt ihm freilich der Ton im Halse stecken, wird der Klang eine Spur kehlig, die Diktion flau. Rachele Gilmore (Blonde) holt einen dann vollends zurück auf Erden: Schwer zu sagen, in welcher Sprache sie singt. Ungleich idiomatischer David Portillo, der Pedrillos Romance als eine Art zunehmend halluzinierten Durchhalte-Gesang bei der Flucht durch die sengende Wüste interpretiert. Jane Archibald, zunächst bloss ehrbar, steigert sich zu einer bezwingenden Konstanze, die über Innigkeit wie Strahlkraft verfügt, über emotionale Durchdringung wie makellose Koloraturen.

Ein kleiner Skandal

Bleibt Martin Kušej s Inszenierung, deren – wir drücken es hier so neutral wie möglich aus – Abänderung durch den Festivalleiter, Bernard Foccroulle , einen kleinen Skandal zeitigte. Zwei Eingriffe erfolgten kurz vor der Premiere: Arabische Schriftzeichen und Symbole wurden von einer schwarzen Fahne entfernt, unter welcher Osmin und seine Janitscharen (bei Mozart) beziehungsweise Jihadisten (bei Kušej) einen Propagandafilm mit Geiseln drehen; ganz am Schluss schwenkt der Aufpasser bloss ein blutiges Tuch, statt – wie vom Regisseur vorgesehen – daraus die abgehackten Köpfe der vier Europäer herauskullern zu lassen.

In einem geharnischten Communiqué verwahrte sich Kušej gegen Eingriffe, die seine Inszenierung entschärft hätten. Die Fahne des Islamischen Staats identifiziert man freilich auch so problemlos; der Schluss hingegen büsst zugegebenermassen an Schockwirkung und Verständlichkeit ein. Doch Foccroulles Argumentation hat etwas für sich: Opernbühnen seien nicht der Ort, um einen Bilderstreit auszutragen; eine Woche nach dem Attentat in Südostfrankreich, bei dem ein Mann enthauptet wurde, könne man keine abgehackten Köpfe auf den Brettern zeigen.

So oder so bleibt Kušejs Ansatz lesbar. Etwas gewunden versetzt der Regisseur die Handlung in den Ersten Weltkrieg, meint aber die Jetztzeit. Konstanze, Blonde und Pedrillo sind Geiseln von Gotteskriegern, bei deren Chef sich Belmonte als Besitzer von Geheiminformationen einschmeichelt. Folgerichtig wurden alle gesprochenen Texte umgeschrieben, nicht aber die gesungenen – Pedrillo singt nach wie vor von einer Leiter, von der sonst nie die Rede ist. Unstimmig wirkt auch der ständige Wechsel vom Deutschen ins Englische. Daneben jedoch finden sich bezwingende Momente. Etwa, wenn die Janitscharen-Jihadisten, an einem Hammel-Knochen nagend, Konstanze während ihrer Arie «Traurigkeit» immer dichter umringen und ihr Kleid begrapschen. Oder wenn sie, Osmin ins Reich des Rausches folgend, mit feuchtem Finger ihre Weingläser zum Singen bringen – derweil der Chef-Bacchant prophetisch von Bomben lallt, die vom Himmel fallen werden.