Erstmals bespielt: Die Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg. Simons setzt Pasolinis Text und J. S. Bachs Musik in ein neues Verhältnis.
Foto: Julian Röder / Ruhrtriennale 2015

Bei der Ruhrtriennale steht heuer wieder alles auf Anfang. Dieser alljährliche, ganz besondere Kultursommer im Ruhrgebiet ist Gerard Mortiers nachhaltigste Erfindung. Die exemplarische Wiederbelebung einer sterbenden Industrielandschaft aus dem Geiste der Kultur wird für die nächsten drei Jahre (nach Mortier, Jürgen Flimm, Willy Decker und zuletzt Heiner Goebbels) von Johan Simons (68) bestimmt. Und der Niederländer macht es nicht unter dem Schiller'schen Pathos eines "Seid umschlungen"-Mottos.

Das ist ambitioniert. Doch wer mit so viel Selbstbewusstsein wie dieser leidenschaftliche Theatermacher in seinen Jahren als Intendant der Münchner Kammerspiele dem bayerischen Idiom einen holländischen Akzent untergemischt hat, dem ist natürlich auch vor dem Ruhrgebiet nicht bange. Der weitet sogar die Zahl der faszinierend geschichtsträchtigen Spielorte noch aus.

Die riesige Kohlenmischhalle der 2005 geschlossenen Zeche Lohberg in Dinslaken, in der er jetzt mit der Theaterversion von Pier Paolo Pasolinis Accattone seinen ersten Triennale-Jahrgang eröffnete, liegt geografisch am Rand der mittlerweile etablierten Ruhrtriennale-Orte in Bochum, Duisburg oder Essen. Dinslaken-Lohberg hat es bisher nur mit seiner Salafistenszene in die Schlagzeilen geschafft.

Pasolini trifft auf Bach

Simons hat eine Theaterfassung von Koen Tachelet mit Chormusik von Johann Sebastian Bach kombiniert. Philippe Herreweghe, das wunderbare Collegium Vocale Gent, die dazugehörigen Choristen und die vier Solisten hat er dafür auf ein Podest vor die riesige Zuschauertribüne gesetzt.

Links davor hat Bühnenbildnerin Muriel Gerstner einen Container platziert. Der Schienenstrang, der bis zum offenen Ende der über 200 Meter langen Halle verläuft, gehört wie der Schotterboden zum vorgefundenen Bestand. All das evoziert Weite, vor allem aber jene melancholische Verlorenheit, die vor allem Bachs Musik beglaubigt.

Im eigentlichen, nicht wirklich mit der Musik verschränkten Stück geht es, wie in Pasolinis Filmerstling von 1960 um einen jungen Mann, der mit seinen Kumpels rumhängt, nichts auf die Reihe kriegt, sich als Dieb und Zuhälter durchschlägt und am Ende auf der Flucht mit einem Motorrad verunglückt. Als er der jungen Stella (Anna Drexler) begegnet und sich in sie verliebt, versucht er es sogar mal mit Arbeit, allerdings nur, um festzustellen, dass das nichts für ihn ist. Dann schickt er doch lieber Stella auf den Strich ...

Nur Staub aufwirbelnd

Simons stellt in den langen zweieinhalb Stunden vor allem die ästhetische Kargheit der Form aus. Sie schmeißen sich im wahrsten Wortsinn in den Dreck und wirbeln doch nur Staub auf. Die Truppe um Steven Scharf (Accattone) und seine Kumpels, Maddalena (Sandra Hüller), Amore (Elsie de Brauw) und Benny Claessens (Das Gesetz) kommt über ein Aufsagetheater nicht hinaus, das mit choreografischen Miniaturen durchsetzt ist.

Das Spiel mit teils semiprofessionellem Tonfall zu der auch sonst körperbetonten Bewegung verliert schnell seinen Charme der Verfremdung – selbst wenn man sich darauf berufen könnte, dass Pasolini mit Laien gedreht hat. "Wir sind der Schrecken der Stadt", sagen sie an einer Stelle, "Komm, o Tod, du Schlafes Bruder", singen sie an einer anderen. Dazwischen ist viel Platz, für tröpfelnde Worte und Staubwolken.

Um die Melange aus exzentrisch Neuem und außergewöhnlich in ein anderes Licht getauchter Kunstanstrengung zu erreichen, mit der die Ruhrtriennale bisher immer wieder glänzen konnte, muss Johan Simons nach dieser Eröffnung noch zulegen. Zeit dafür hat er noch bis Ende September. (Joachim Lange, 18.8.2015)