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Bühne und Konzert Ruhrtriennale

Hier kommt die Kantate zu den Kumpeln

Freier Feuilletonmitarbeiter
SPERRFRIST 14.08.2015 20:00 UHR - Steven van Watermeulen als Balilla (l) und Jeff Wilbusch als Cartagine bei der Probe einer Szene des Stücks "Accattone" am 12.08.2015 in der Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken (Nordrhein-Westfalen). Das Musiktheaterstück "Accattone" mit Texten von P.P. Pasolini und Kantaten von J.S.Bach wird am 14.08.2015 uraufgeführt. Der neue Intendant der Ruhrtriennale J. Simons führt selbst Regie. Foto: Bernd Thissen/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ruhrtriennale +++(c) dpa - Bildfunk+++ SPERRFRIST 14.08.2015 20:00 UHR - Steven van Watermeulen als Balilla (l) und Jeff Wilbusch als Cartagine bei der Probe einer Szene des Stücks "Accattone" am 12.08.2015 in der Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken (Nordrhein-Westfalen). Das Musiktheaterstück "Accattone" mit Texten von P.P. Pasolini und Kantaten von J.S.Bach wird am 14.08.2015 uraufgeführt. Der neue Intendant der Ruhrtriennale J. Simons führt selbst Regie. Foto: Bernd Thissen/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ruhrtriennale +++(c) dpa - Bildfunk+++
SPERRFRIST 14.08.2015 20:00 UHR - Steven van Watermeulen als Balilla (l) und Jeff Wilbusch als Cartagine bei der Probe einer Szene des Stücks "Accattone" am 12.08.2015 in der Kohle...nmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken (Nordrhein-Westfalen). Das Musiktheaterstück "Accattone" mit Texten von P.P. Pasolini und Kantaten von J.S.Bach wird am 14.08.2015 uraufgeführt. Der neue Intendant der Ruhrtriennale J. Simons führt selbst Regie. Foto: Bernd Thissen/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ruhrtriennale +++(c) dpa - Bildfunk+++
Quelle: dpa
Die Passionsgeschichte eines Prellbocks: Johan Simons eröffnet seine erste Ruhrtriennale in Dinslaken-Lohberg mit einer staubigen Adaption von Pier Paolo Pasolinis über 50 Jahre altem Film „Accatone“.

Bach! So schön! Wohliges Zurücklehnen ist diesmal nicht. Dafür gibt der Plastikschalenstuhl zu unbequem nach, die Abendkälte kriecht nach klebriger Schwüle draußen bereits unangenehm die Hosenbeine hoch, und außerdem wird da nicht besonders Angenehmes gesungen: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?“ Der Eingangschoral der g-moll-Kantate BWV 48 für den 19. Sonntag nach Trinitatis.

Es wird freilich sehr, sehr schön intoniert. Die wohlgemischten Stimmen des links auf einem schäbigen, halb versunkenen Podest sitzenden Genter Collegium Vocale unter dem verhaltenen Philippe Herreweghe schwingen kräftig, dabei schwebend zart durch Halle. Die ist 210 x 65 Meter lang wie breit, eine freitragend zeltartige Konstruktion aus Blechdach und Holzstahlträgern. Von der Elektroakustik abgemischt, tönt es wie in einer Kathedrale. Bis 2005 wurden hier, in Dinslaken-Lohberg, riesige Haufen von Kohle gemischt. Jetzt macht die Ruhtriennale Musiktheater.

Die Bachmusik spielt dazu: das Collegium Vocale Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe
Die Bachmusik spielt dazu: das Collegium Vocale Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe
Quelle: dpa

Nach einem sich ziehenden Pilgerweg zum Spielort sitzen wir am einen Ende der grottenartigen Konstruktion. Am anderen, offenen Ende geht über einem Birkenwäldchen langsam der Tag zur Neige. Dazwischen viel Schotter, der staubt, wenn man aufstampft oder sich auf den Boden wirft. Und es wird in den nächsten 150 Minuten viel gestampft und geworfen werden, nachdem zu diesen Auftaktklängen von hinten eine Männergang den weiten Weg wie zum Western-Showdown nach vorne geschlurft ist. Rechts stöckeln ihre professionell mit afrikanischen Printstoffen aufgemachten Arbeitsmädchen aus dem Container, den Muriel Gerstner als einzige Bühnenbildandeutung in diese postindustrielle Ödnis gestellt hat.

Ein bunter Ball im Schottergrab

Halt, da ist noch das symbolschwere Gleis mit Prellbock, das ins Nirgendwo führt, die Musik kommt von der richtigen Seite, die Menschen wohnen auf der falschen. Und schließlich noch das Loch vor dem Instrumentalistenpodium. Dort wirft man Sachen hinein, ein bunter Ball verschwindet darin, die Titelfigur legt sich schon mal als Probegrab hinein. Denn sie wird am Ende tot sein, so wie auch schon die Musikwahl den Passionsgedankenweg vorgibt.

Ende eines ungewollten Anarchisten: Accatone (Steven Scharf) stirbt über seinem Motorrad
Ende eines ungewollten Anarchisten: Accatone (Steven Scharf) stirbt über seinem Motorrad
Quelle: dpa

Aber wird Accatone, den der katholische Kommunist Pier Paolo Pasolini für seinen ersten Spielfilm 1961 erfand, auch erlöst werden? Wohl nicht, so gottlos stumpfsinnig wie der sein Leben vergeudet und dann wegwirft. Er mag nicht arbeiten, das findet er pervers, vegetiert in den Tag, kassiert das wenige Zuhältergeld, das seine von ihm auf den Strich geschickten Freundinnen abliefern. Und am Ende, längst lebensmüde, stirbt er durch einen banalen Motorradunfall.

Es geht um dem Stumpfsinn des Daseins, die Ort- und Ziellosigkeit, die mangelnde Lebensperspektive. Der stets sozial und politisch bewegte, dafür vehement angegriffene Pasolini hatte das einst mit Laien in den römischen Vorstädten wie in einer Mondlandschaft gefilmt. So überdeutlich, gleichzeitig lethargisch, bewusst kunstlos, dann in seinen christlichen Anspielungen belehrend dieser über 50 Jahre alte Film heute wirkt, dieser Moment des Authentischen macht ihn immer noch stark.

Die Industrieruine neben der Salafisten-Hochburg

Gilt das aber auch für seine Wiederbelebung? Unter ganz anderen sozialen Umständen, durch professionelle Schauspieler, in der Mehrzahl aus Holland. Die ziehen nun auf Deutsch eine italienische Geschichte in einer in Gentrifizierung befindlichen Industrieruine gleich neben einer Salafisten-Hochburg im Ruhrgebiet für ein Hochkulturfestival durch. Um es vorwegzunehmen: Der lange, in jeder Hinsicht lakonisch kühle Abend kommt über den artifiziellen Schweiß einer bemühten Kunstübung in Sozialromantik nicht heraus. Er bleibt Behauptung. Einzig Bach setzt sich durch. Das tat er übrigens auch schon bei Pasolini, dessen Anliegen stets authentisch wirkte.

Dabei hatten alle die besten Absichten und machten sie diesmal auch mehr als deutlich. Schließlich hat die Ruhrtriennale, in NRW als überregional strahlendes Großkulturereignis gehätschelt, seit 15 Jahren nichts von ihrer ambivalenten Existenz verloren. In Wuppertal hat man das Schauspielhaus geschlossen und lässt ein Rumpfensemble in einer umgebauten Garage spielen. In Essen wurden Philharmonie und Aalto-Opernhaus fusioniert. In Köln regieren Klüngel und Disaster über die heimatlosen Städtischen Bühnen im Umbau. Die ungleiche Theaterehe Duisburg-Düsseldorf hat eben mal wieder ihre Scheidung vertagt; in Dortmund wird gekürzt; in Hagen steht die Oper am Abgrund. Aber für sechs Spätsommerwochen werden alte Industriedenkmäler schlagzeilenträchtig teuer spielfertig gemacht und wie Ufos mit internationaler De-luxe-Kunst befüllt. Danach kann sich aber keine Kommune den kulturellen Unterhalt der unter Denkmalschutz stehenden Monsterhallen leisten.

Hier scheint vieles Fassade: Duisburgs Hauptbahnhof ist saniert, aber daneben machen sich Brachen breit, es gibt immer noch die Sieben-Euro-Kunstleder-Taschen in der Boutique Glamour und den Knüllermarkt im Dekoparadies. Auch Dinslaken täuscht als Gartenstadtidyll mit Baumärkten und Burgerbratern neben „Bollywood“-Inder und „Ali-Baba“-Dönertürken. Direkt gegenüber der Lohberger Zeche ist der moslemische Kulturverein beheimatet – angesichts des Eventgeweses mit italienischer Edelwurstauswahl im Schilfschiffchen und Liegestühlen zum Abhängen scheint er dort wie von einem anderen Stern.

Der Bürgermeister meckert über das Event-Spektakel

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Johan Simons, der gern auf seine proletarische Herkunft verweist, ist als fünfter Intendant der erste, der nicht von der Musik kommt. Er macht die Arbeit offensiv zu seinem ersten Triennale-Motto, aber auch er eröffnet mit großer (Anti-Arbeiter-) Oper. Die Spielstätten verlangen offenbar danach. Nicht aber Dinslakens stellvertretender Bürgermeister Eyüp Yildiz (SPD), der Simons in einem offenen Brief vorwarf, die frisch revitalisierte „pittoreske Schacht-Kulisse“ nur für sein Spektakel zu missbrauchen. Dabei ist doch Partizipation oberstes Triennale-Gebot: Simons und Yildiz trafen sich also zum „Welt am Sonntag“-Dialoginterview, drei Stunden vor dem Auftakt gab es eine wenig beachtete „Festrede“ des Philosophen Byung-Chul Han samt Bettina-Böttiger-Diskussion.

Der teuren Kunst (allein 2,2 Millionen Euro kommen vom Bund, eine Million von der Bundeskulturstiftung) nützt das nichts. Mag sie sich trotzig-offensiv schmutzig machen, die Nutten bleiben Theaterdirnen, die Luden Schauspielzuhälter. Steven Scharfs Accatone ist viel zu laut und unverletzbar, Sandra Hüllers Maddalena zu komplex verspreizt. Ausgerechnet der dicke Benny Claessens (das Gesetz) bringt mit seiner gar nicht abstrakten Körperlichkeit atmendes Lebens in dieses Konstrukt. Das macht sich zusätzlich durch von den Akteuren vorgetragene auktoriale Szenenbeschreibungen wichtig. Wenn Simons auch in der Kohlenmischhalle „Pasolinis Wüsten“ ausmachen will, es raschelt nur trocken die papierene Behauptung.

Zur Sache, Schätzen: Steven van Watermeulen und Elsie de Brauw
Zur Sache, Schätzen: Steven van Watermeulen und Elsie de Brauw
Quelle: dpa

Besonders, wenn die Musik verklungen ist. So wie die Kollektive räumlich getrennt bleiben, jeder für sich schafft, so kommt es nie zu Berührungen, Vermischungen, zum angestrebten Gesamtkunstwerk. Dorothee Mields singt in türkiser Robe sopranmild und entrückt „Wir zittern und wanken“, der Bass Peter Kooij deklamiert hinreißend lauter „Ich hab genug“. „Accatone“ erreichen sie nicht. So wird Pasolinis Vorlage zur „Dreigroschenoper“ mit himmlischem Bach-Flickwerk.

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