Marco Di Sapia muss als Platon Kusmitsch Kowaljow in Nikolai Gogols "Die Nase" (1836) zur Rückgewinnung seines verlorenen Riechorgans so manchen Alptraum durchleben.

Foto: Armin Bardel

Wien – Grundvoraussetzung zum Beitritt einer jeden Gesellschaft ist Konformismus. Man will unter sich sein. Verändert sich ein Mitglied plötzlich, wird es belächelt, verachtet, verspottet, verfolgt – je nachdem. Doch wenn der Makel beseitigt ist, kehrt auch das Opfer wieder heim unter den muffigen, aber doch wärmenden Mantel der Gemeinschaft und wird selbst wieder ein seliger Konformist.

Der russische Dichter Nikolai Gogol hatte den richtigen Riecher dafür, wie Sozialgemeinschaften so ticken. In seiner 1836 uraufgeführten Farce Die Nase mischt er hyperrealistische und surrealistische Elemente zu einem fantastischen Gesellschaftsporträt. Gogol lässt seinen Protagonisten Platon Kusmitsch Kowaljow hierbei sein nämliches Körperteil verlieren und schickt ihn zur Rückgewinnung seines Riechorgans auf eine albtraumhafte Tour.

Der 22-jährige Dimitri Schostakowitsch hat aus Gogols Meisterstück eine Oper gemacht, die der reine Wahnsinn ist. Es gibt knapp 80 (!) Partien zu besetzen. Schostakowitschs Musik ist schlank, drahtig, von einer ungeduldigen, nervösen Motorik geprägt und setzt Gogols szenische Grotesken in spitze, schräge, drastische Klänge um.

Alles wie geschmiert

Man muss sich bei der Neuen Oper Wien für den Mut bedanken, dieses enorm anspruchsvolle Werk aufzuführen (einen Mut, den die großen Häuser nicht haben), genauso wie man sich bei Walter Kobéra nach der Premiere in der Wiener Kammeroper für die großartige Umsetzung zu bedanken hat. Das komplizierte Räderwerk der Orchesterstimmen dreht sich unter seiner Leitung präzise und flink, die Koordination mit den zahlreichen Sängern, die komplexen Ensembles: funktioniert alles wie geschmiert.

Matthias Oldags abwechslungsreiche Inszenierung (Ausstattung: Frank Fellmann) stellt gesellschaftliche Gewalttätigkeiten heraus: Die Polizisten sind zur Spezialeinheit Marke Cobra hochgerüstet worden. Bei der Verfolgung des Barbiers prasselt plötzlich ein Hagel an Beschimpfungen auf den Flüchtigen nieder – was so nicht im Libretto steht. Überraschend auch, dass sich Kowaljow beim Wachtmeister, der ihm seine Nase zurückbringt, nicht mit Geldgeschenken bedankt, sondern ihn umbringt. Der Traumatisierte, der mittlerweile im Tutu Pirouetten dreht, scheint völlig durchzudrehen: kein Wunder, dass Kowaljew vom Arzt, der ihm die Nase wieder ins Gesicht fügen soll, in eine Zwangsjacke gesteckt wird.

So wie die Regie Oldags von Energie und körperlicher Wucht geprägt ist, so wird in der kleinen Kammeroper auch fast durchwegs mit raumsprengender Kraft gesungen: etwa vom tollen, intensiv agierenden Marco Di Sapia als Kowaljow, vom elegant-vitalen Alexander Kaimbacher als Nase, von Igor Bakan (Barbier) oder vom Höhenspezialist Pablo Cameselle (Wachtmeister).

Das Juwel der Produktion: Lorin Wey als Kowaljows Diener Iwan. Sein heller, weicher freischwingender Tenor macht glücklich. Butterweich Tamara Gallos Mezzo (als Podtotschina), piepsig Ethel Merhaut (als ihre Tochter). Ein professionelleres Prostituiertenstyling wie jenes von Megan Kahts hat man selten gesehen: Kompliment an Fellmann. Und auch der Wiener Kammerchor bewältigt die extremen Anforderungen Schostakowitschs mit Bravour. Eine beeindruckende Produktion, und gleichzeitig auch eine Demonstration des exzellenten Niveaus der freien Musiktheatergruppen in Wien. Helle Begeisterung. (Stefan Ender, 23.9.2015)