Beim Stichwort "Dornröschen" denken Musikfreunde in erster Linie an den Ballettklassiker von Peter Iljitsch Tschaikowsky. Die Grazer Oper bietet dazu zwei interessante Alternativen.

Jörg Weinöhl, der neue Ballettchef, hat sich mit seinem "Der Liebe Schlaf" betitelten "Dornröschen"-Ballett so erfolgreich vorgestellt, dass die Oper am 8. Dezember eine Zusatzvorstellung einschiebt.

Jetzt folgte die späte Grazer Erstaufführung von Engelbert Humperdincks "Dornröschen". Ein 1902 aus der Taufe gehobenes "Märchen in einem Vorspiel und drei Akten", das an den Triumph von "Hänsel und Gretel" nie anschließen konnte. Schuld daran ist in erster Linie das Libretto der Berliner Jugendbuchautorin Elisabeth Ebeling und ihrer Freundin Bertha Lehrmann-Filhès, das auf dem Grimmschen Märchen basiert, Anleihen bei Mozarts "Zauberflöte" und Wagners "Parsifal" nimmt und sich auch bei den kurz davor entstandenen "Dornröschen"-Opern von Ferdinand Langer (der die Motive des Schneesturms und des Zweikampfs entstammen) und Andreas Weickmann (der die Irrfahrt des Retters vorwegnimmt) bedient.

Märchentonfall

Zu den schwer zu realisierenden theatralischen Anforderungen gesellen sich die hausbackenen Reimereien, mit denen die Grazer Oper kurzen Prozess macht. Sie streicht für ihre konzertante Aufführung in der atmosphärischen szenischen Einrichtung von Christian Thausing die elf Sprechrollen und den Großteil der Dialoge und ersetzt sie durch eine Erzählerin. In einem roten Ohrensessel sitzend, verhilft Erika Pluhar der von Tilmann Böttcher und Bernd Krispin erstellten Textfassung mit ihrer charakteristischen Stimme und intimem Märchentonfall zu maximaler Wirkung.

Das Rollenverzeichnis umfasst 31 Figuren. 16 sind für Sänger bestimmt, vier können wahlweise von Sängern oder Sprechern wiedergegeben werden. Wie in der Urfassung seiner "Königskinder" versucht Humperdinck hier nämlich mit der Integration des Melodrams, also des orchesterbegleiteten, rhythmischen Sprechgesangs auf festen Tonhöhen, eine Alternative zum Musikdrama seines Vorbilds Richard Wagner zu finden. Diese innovative Konzeption kommt in der Grazer Aufführung aber kaum zum Tragen, weil hier fast stets dem reinen Gesang der Vorzug gegeben wird.

Aus gutem Grund, glänzt doch neben dem auch mit kleinen Soli betrauten Chor ein sehr homogenes Ensemble. Tatjana Miyus entzückt mit jugendlichem Sopran als Röschen, das neue Ensemblemitglied Sophia Brommer stellt sich als Feenkönigin Rosa mit blühendem Ton vor, Sieglinde Feldhofer beweist als Quecksilber stimmliche Agilität und Iris Vermillion zieht als böse Fee Dämonia alle vokalen Register. Peter Sonn führt als Prinz Reinhold einen prachtvollen lyrischen Tenor ins Treffen.

Zwitter

Die farbig und raffiniert instrumentierten 33 Musiknummern der sich durch opulente Orchestrierung und melodieselige Gesangsparts auszeichnenden Partitur dieses Zwitters zwischen Schauspielmusik und Oper realisiert Dirigent Marius Burkert mit dem Grazer Philharmonischen Orchester in liebevoller Manier als zauberhafte Märchenmusik.

ERNST NAREDI-RAINER