Mit den Augen hören und mit den Ohren sehen
WIEN. Am Samstag hatte Mozarts „Don Giovanni“ in der faszinierend surrealen Bilderwelt des Achim Freyer an der Volksoper Wien Premiere und begeisterte auf allen Ebenen.
Natürlich gab es Buhs, gab es Missfallenskundgebungen, dass Mozarts Meisterwerk nicht so aussah, wie man es gewöhnt sein mag. Nun ist ein Opernhaus kein Museumsbetrieb, sondern lebendiges Theater, das vielfältige Formen der szenischen Darstellungskunst zusammenbringen kann, soll, ja muss.
Und in dieser Hinsicht ist Achim Freyer sogar mehr als konventionell. Sein Don Giovanni spielt auf einer offenen Stehgreifbühne und bedient sich weidlich aus dem optischen, choreographischen und gestischen Repertoire der Commedia dell’arte. Die Figuren in ihren fast puppenhaft starren Kostümen, in ihrem sehr eingeschränkten Bewegungskanon und in ihrer typenhaften Reduktion scheinen wie ausgeschnitten aus einem Bastelbogen für ein Papiertheater. Leporello ist eine Mischung aus Arlecchino mit den klassischen Attributen und aus Pagliaccio, dem tollpatschige Knecht und Nachäffer, der versucht in die Fußstapfen seines Herrn zu treten. Don Giovanni ist der echte Arlecchino, der sich mit dem typischen Harlekinsprung in die Szene „beamt“ – „Eccomi!“ („Da bin ich!“). Allerdings ist seine Verkörperung die des teuflischen Spielmachers, der die Schwächen der anderen bloßlegt.
Damit trifft Freyer exakt Mozarts und Da Pontes Konzept. Don Giovanni steht gar nicht im Mittelpunkt der Oper, sondern alle rund um ihn legen ihre Seelen offen, legen ihr Innerstes auf den Präsentierteller, so als würde man jede Intimität öffentlich auf Facebook posten. Wir wissen alles über sie und ihre Emotionen, nichts aber über Don Giovanni. Wir glauben nur etwas zu wissen. Draus entwickelt Achim Freyer, der auch für die Ausstattung verantwortlich ist, ein bis in letzte Detail aufeinander abgestimmtes Gesamtkunstwerk, das vielleicht anfänglich verwundern, ja verwirren mag, das aber über den ganzen Abend hinweg immer bezwingender wird. Ganz nach Freyers Motto: Mit den Augen hören.
Allerdings gab es auch viel für die Ohren zu „sehen“. Nämlich ein ausgesprochen gut studiertes und schon lange nicht so lust- und qualitätsvoll musizierendes Orchester der Wiener Volksoper. Dirigent Jac van Stehen hat nicht nur einen musikalisch absolut schlüssigen und tempomäßig ideal auf die Sänger abgestimmten Mozartklang erarbeitet, sondern mit offensichtlich überaus großer Motivation alle zu Höchstleitungen angespornt.
Im Solistenensemble allen voran Jörg Schneider als Don Ottavio. In seiner Rolle als behäbiger Alter hat er genügend Freiräume, sein für Mozart absolut perfektes Timbre und seine dennoch auch in der Höhe unerschütterliche Stimme ganz in den Dienst der Musik zu setzen. Seine beiden Arien hatten Weltklasse-Niveau. Aber auch Josef Wagner verstand es perfekt, als Don Giovanni im Regiekonzept Freyers aufzugehen und auch stimmlich überzeugend zu agieren. Nicht minder sein Kompagnon und Diener Leporello, dem Mischa Schelomianski die perfekten Züge zwischen Komik und bitterer Tragik lieh. Ben Connor passte in seiner hünenhaften Gestalt, in seiner sozial niederen Schichten vorbehaltenen Stehfrisur und in ebenso milieubehafteten stereotypischen Gesten perfekt in die Rolle des Masetto und Anita Götz war dazu die perfekte Zerlina, als lebenslustige selbstsichere Colombina. Kristine Kaiser überzeugte als noble Adelige, als starr verbittert Leidende und wusste auch stimmlich ihre Fähigkeiten voll und ganz auszuspielen. Kurzfristig sprang Esther Lee als Donna Elvira ein und beeindruckte als schräge „Desperate Housewife“, als liebestoll sich an Giovanni festklettende Tussi. Perfekt auch der Einsatz von Chor und Komparserie, die alle Hände zu tun hatte, die vielen kleinen Requisiten unter Kontrolle zu halten. Eine absolut sehens- und hörenswerte, höchst fantasievolle Produktion.
Volksoper: Premiere von Mozarts „Don Giovanni“ in der faszinierend surrealen Bilderwelt des Achim Freyer, 14.11.