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Bühne und Konzert Prokofjews Oper

„Der feurige Engel“ als Sex-Geisterbahn in München

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Entfesseltes Pandämonium weiblicher Obsession: Svetlana Sozdateleva als Renata „ in Prokofiews „Der feurige Engel“ Entfesseltes Pandämonium weiblicher Obsession: Svetlana Sozdateleva als Renata „ in Prokofiews „Der feurige Engel“
Entfesseltes Pandämonium weiblicher Obsession: Svetlana Sozdateleva als Renata „ in Prokofiews „Der feurige Engel“
Quelle: © Wilfried Hösl
Kerle im Fummel und Nonnen als blutiger Christus: Trotzdem deutet Barrie Kosky in München Prokofjews unbekannte Oper „Der feurige Engel“ konsequent und gekonnt als Hysterie-Studie.

Sie kam reichlich spät, diese Renata. Denn eigentlich war der Höhepunkt weiblicher Hysterie als ein seltsames, von einer misogyn-männlichen Ärzteschaft mal mit Wassergüssen, mal mit Vibratoren bekämpftes Krankheitsphänomen im 19. Jahrhundert. „Hysterie ist eine organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes“, schrieb Otto Weininger noch 1903. Vorher schon kam weiblicher Wahnsinn auch auf der romantischen Opernbühne groß in Mode, ergriff Lucia di Lammermoor und ihre Schwestern, besonders heftig dann Salome (1909), Richard Strauss’ dekadente Prinzessin aus Judäa, und dessen mykenische Muttermörderin Elektra (1909).

Ihre Geburt als russische Romanfigur erlebte Renata 1910. Zwischen 1919 und 1927, zum Teil im bayerischen Kloster Ettal, komponierte dann Sergej Prokofjew, damals glühender Verehrer des russischen Expressionismus und Futurismus, an dieser schrägen Geschichte aus dem finsterdeutschen Mittelalter. Darin erlebt eine Frau sowohl religiöse wie sexuelle Ekstasen mit einem Engel namens Madiel und glaubt diesen in einem in der Oper niemals auftretenden Grafen Heinrich wiederzufinden. Als Werkzeug ihres Wahns nutzt sie den in sie verliebten Ritter Ruprecht. In ein Kloster zurückgezogen, soll sie exorziert werden, wiegelt ihre Mitnonnen rauschhaft auf und wird zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt.

In der Kosky-Opernhölle: Jewgeni Nikitin und Kevin Conners als Mephistopheles
In der Kosky-Opernhölle: Jewgeni Nikitin und Kevin Conners als Mephistopheles
Quelle: © Wilfried Hösl

Anders als „Salome“ und „Elektra“, die bei ihrer Uraufführung für einen Skandal sorgten, aber bis heute zu den beliebtesten singenden Hysterikerinnen gehören, brauchten „Der feurige Engel“ und seine Renata eine lange Anlaufzeit. Der nach Moskau heimgekehrte Prokofjew erlebte seine gegen jede sowjetische Kunstdoktrin verstoßende vierte Oper niemals auf der Bühne, erst 1955 wurde sie in Venedig uraufgeführt. Erst in den letzten Jahren werden die Inszenierungen des schrillen, auf der Szene ordentlich was hermachenden Stückes mehr.

Nur am Anfang geht es gesittet zu

Wobei es an der Bayerischen Staatsoper anlässlich der Münchner Erstaufführung des „Feurigen Engels“ zunächst sehr gesittet zugeht. Wir sehen ein von weißen Passepartout-Balken eingerahmtes De-Luxe-Hotel-Doppelzimmer, in dem ein Gast sich daran macht, seine Koffer auszupacken. Plötzlich stöhnt es, das Bett fährt nach vorn, und darunter erscheint Renata, die Ruprecht immer mehr in den Sog ihrer Visionen und Trugbilder zieht. Regisseur Barrie Kosky wäre nicht er selbst, wenn nach einem manierlich sich steigernden Außer-sich-Geraten als sinnlich-suggestiver Zimmerschlacht – bei der auch Wladimir Jurowski im Graben die Siedegrade dieser stetig mehr lodernden Musik in flächigen Wallungen aufheizt – nicht die Kosky-Markenzeichen auftauchten: erst Kerle im herrlichsten Seidenroben-Fummel; diesmal so breitflächig tätowiert wie der Ruprecht von Jewgeni Nikitin, der seine angeblichen Nazi-Runen ja 2012 in Bayreuth nicht zeigen durfte. Und auch jetzt nur einen Arm frei macht.

Jewgeny Nikitin und Svetlana Sozdateleva
Jewgeny Nikitin und Svetlana Sozdateleva
Quelle: © Wilfried Hösl

Dafür baumelt um ihn und die es immer wilder treibende Renata der sich mit schillernd-durchdringendem Sopran verzehrenden Svetlana Sozdatelva bald mancher (Plastik-)Pimmel. Je ungestümer sich dieses ungleiche Paar in seiner sich anziehenden wie abstoßenden Duo-Liebesraserei gebärdet, umso mehr umvölkern es phantasmagorische Höllengestalten in Lack und Ketten, am Ende sich in blutender Christgestalt vorgeblicher Erlösung entgegensingende Klosterfrauen. Sinn und Irrsinn brechen so vehement ein in den eben noch so anonymen Beherbergungsraum.

Eine pathologische Abhängigkeitsstudie

Kosky konstatiert konsequent eine pathologische Abhängigkeitsstudie und fokussiert seine pausenlose Inszenierung ohne jede Einteilung in sonst fünf Akte und sieben Szenen auf das fatale Pärchen in seinem sich in der Höhe und mit einem roten Theatervorhang verändernden Hotelzimmer (Bühne: Rebecca Ringst). Alle anderen Figuren tauchen da nur als Geisterbahn-Erscheinungen auf. Barrie Kosky verengt so zwar die Vorlage, die durchaus noch ein stummfilmhaftes Mittelalterpanorama entfaltet, aber er spitzt sie in gekonnt strudelhaftem Accelerando zu auf ihren Kern: wie sich einer emotional anstecken lässt von dem Irrsinn einer Frau, von der wir noch nicht einmal wissen, ob sie überhaupt existiert – denn sie ist ja einfach nur da. Und zwar am stummen Ende immer noch, nachdem das orgiastische Purgatorium längst wieder verschwunden ist.

Transen und Teufel im Wahn
Transen und Teufel im Wahn
Quelle: © Wilfried Hösl

Solches ist freilich nur möglich durch die düster-bannende Präsenz des freilich öfters hohl tönenden Jewgeni Nikitin, durch Svetlana Sozdatelevas souveräne Totalhingabe – und Wladimir Jurowskis präzises klangliches Anheizen bis zur genau gesteuerten Orchester-Eruption. So entzündete „Der feurige Engel“ auch das Münchner Publikum.

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