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Das Volk drängt: Sopranistin Anna Netrebko als psychisch desolate und von Fantasien geplagte Giovanna d'Arco in der Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier.

Foto: AFP / Teatro alla Scala / Brescia-Amisano

Es kommt selten vor, dass den Opernbesucher das Gefühl überkommt, ein – als auffällig erkanntes – Objekt strengster Observation zu sein. Bei jenem Gebäude, dem er sich zu nähern versucht, handelte es sich ja nicht um einen gefährdeten Flughafen, vielmehr um ein Opernhaus. Bereits auf dem Platz vor der Mailänder Scala wird er jedoch von resoluten Herren mit Metalldetektoren durchleuchtet. Nachdem er die Scala doch noch betreten durfte, widerfährt ihm Selbiges abermals.

Prickelnde Zeiten. Mehr als 700 Sicherheitskräfte (im und rund um das Opernhaus) kümmern sich bei der Scala-Saisoneröffnung um Ordnung. Nachrichtendienste hatten in der Oper ein mögliches Terrorziel erkannt und für Spannungsgefühle gesorgt; auch Spezialisten aus den USA sollen unterstützend zugegen gewesen sein.

Schlecht für die Stimme

Kein Wunder, dass diese Stressatmosphäre auch beteiligte Kunstmenschen erfasste: Anna Netrebko ließ im Vorfeld der Premiere von Giuseppe Verdis Frühwerk Giovanna d'Arco verlauten, es wären diese Anschlagsmutmaßungen der Schönheit ihrer Stimme nicht über die Maßen zuträglich.

Und wie die Vorstellung (nach absolvierter italiensicher Nationalhymne) beginnen durfte, schien ein Quantum ihrer Souveränität tatsächlich backstage geblieben zu sein.

In der Tiefe klang Netrebko etwas blass und rudimentär, die Koloraturen wirkten nicht in jeder Faser sicher. Allerdings ist die Partie der Giovanna an sich schon von besonderer Schwere. Sie führt eben auch eine Netrebko an ihre Flexibilitätsgrenzen; und sie ist auch nicht durchgehend dieser – vor allem im Lyrischen – frappanten Stimme zuträglich.

Das Regieduo

Von Minute zu Minute tönte es jedoch ausgewogener, bis sich schließlich Pracht einstellte: Dieses samtige Timbre, das besonders in den Höhen Impulsivität und luxuriöse Farbpracht zu vereinen vermag; dieses Spiel mit der Dynamik, woraus ansatzlose Pianissimi erwachsen – all dies rechtfertigt wohl die Wiederbelebung einer Oper, die seit 150 Jahren nicht an der Scala gezeigt wurde.

Die Inszenierung der durchaus als Könner aktenkundigen Regisseure Moshe Leiser und Patrice Caurier lässt die Figur der Giovanna ein bürgerliches Haus des 19. Jahrhunderts erschüttern. Und dies als vom historischen Wahn geplagte Dame. Vater Giacomo (solide der für den an einer Bronchitis erkrankten Carlos Álvarez eingesprungene Devid Cecconi) ist somit der tragische Zeuge einer die Bühne immer wieder flutenden, historischen Fantasiewelt (Bühnenbild Christian Fenouillat). Da durchbohren rote Lanzen das Zimmer der bettlägerigen Giovanna. Da bricht das Volk durch Wände und bedrängt ein fragiles Mädchen, dem auch hüpfende Monsterchen zusetzen (wohl den Skulpturen der Notre-Dame-Kathedrale nachempfunden).

Giovannas Fantasie kreist auch um Sexuelles, das diskret filmisch erweckt wird und auf Carlo VII. zielt. Selbiger tritt allerdings gern als ganzkörperlich vergoldete Figur auf, samt stolzem Goldpferd.

Psychologischer Ansatz

Zum Finale hin werden leider auch Figuren mit Engelsflügeln sichtbar: Sie untermauern – skurril verklärend – den Eindruck, das Regieduo würde seinen psychologischen Ansatz durch allzu plakative szenische Pointen seiner vorhandenen Subtilität berauben. Ein weiterer Beweis für eine Arbeit unter dem Niveau des Duos wären die in den Bürgersalon einbrechenden Kriegsszenen. Giovanna fuchtelt hier halbherzig mit dem Schwert herum – handwerklich ist dies bescheidenste Regiemachart.

Immerhin: Der Italiener Francesco Meli (Carlo VII.) legt eine stimmliche Leistung von bemerkenswert kultivierter tenoraler Energie hin. Und das Orchester unter Riccardo Chailly, dem neuen Musikdirektor der Scala, findet nach etwas bombastischem Beginn zu respektabler Klangkultur und sängerfreundlichem Pathos.

Am Schluss einer Premiere, für deren Besuch bis zu 2400 Euro zu zahlen waren, gab es Applaus und Rosenregen für die Sänger; das Regieduo bekam etwas davon ab. In der Begeisterung war vielen Anwesenden (u. a. Rockerin Patti Smith und Italiens Premier Matteo Renzi) womöglich ein Zwischenfall entgangen: Eine Frau beförderte sich aus dem Zuschauerraum in den Orchestergarben und warb mit einem Slogan – für ein reicheres und gerechteres Italien. (Ljubisa Tosic aus Mailand, 8.12.2015)