Am Ende rufen die Engel

Anna Netrebko singt zur traditionellen Saisoneröffnung an der Scala die Titelrolle in Giuseppe Verdis früher Oper «Giovanna d'Arco». Szenisch hat sie dabei einen Drahtseilakt zu vollbringen.

Christian Wildhagen, Mailand
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Visionär verfolgt: Anna Netrebko als Giovanna d'Arco. (Bild: Brescia-Amisano / Teatro alla Scala)

Visionär verfolgt: Anna Netrebko als Giovanna d'Arco. (Bild: Brescia-Amisano / Teatro alla Scala)

Das 19. Jahrhundert hatte die wundersame Angewohnheit, Heroen der Geschichte mit heiligem Ernst auf den Sockel zu stellen. Und so gipfeln nicht nur viele Romane und Theaterstücke, sondern auch etliche Opern, zumal jene in der Tradition der Grand Opéra, in regelrechten Apotheosen ihrer Titelhelden. Wir dagegen tun uns heute schwer mit diesen prunkvollen, nicht selten kunstreligiösen Verklärungen bedeutender Figuren – hat sich doch «Grösse» allzu häufig als relativ, nämlich als das Konstrukt einer von Idolatrie und Begeisterung geblendeten Nachwelt erwiesen.

Giuseppe Verdis siebte Oper, entstanden in den schwierigen «anni di galera» um 1845, ist so gesehen eine einzige grosse Apotheose, gewidmet ebenjener Jungfrau von Orléans, die bis heute als französische Nationalheldin verehrt wird. Ob zu Recht, darüber mögen die Historiker streiten – Verdis Oper hingegen erscheint, rein ästhetisch betrachtet, als ebenso reizvolle wie kuriose Angelegenheit.

Anwältin der Titelrolle

«Giovanna d'Arco», am 15. Februar 1845 an der Scala uraufgeführt, gehört von jeher – anders als der drei Jahre ältere «Nabucco» oder der 1847 folgende «Macbeth» – nicht zu den Erfolgsstücken aus Verdis frühem Œuvre, eher zu den «Problemkindern». Obschon es die Reihe seiner insgesamt vier Opern nach Stoffen Friedrich Schillers eröffnet, hat sich das Werk selbst nach der Renaissance von Verdis «Risorgimento»-Opern kaum im Repertoire verankern können. Es dauerte bis 1989, bis der Filmregisseur Werner Herzog durch eine wegweisende, auch als Videomitschnitt verbreitete Inszenierung der «Giovanna» wieder mehr Aufmerksamkeit verschaffte.

Unterdessen hat sich – ähnlich wie einst Maria Callas bei der «Medea» von Luigi Cherubini – die Starsopranistin Anna Netrebko zur Anwältin der Titelrolle aufgeschwungen. Sie sang die Giovanna bereits 2013 an der Seite von Plácido Domingo konzertant bei den Salzburger Festspielen. Ihrer Überzeugungskraft sowie der glücklich entzündeten Begeisterung von Musikdirektor Riccardo Chailly für die Partitur war es zu verdanken, dass die Oper nun zum ersten Mal seit einer Reprise von 1865 an die Scala zurückkehrte – an den Ort der Uraufführung. Die grössere Herausforderung lag dabei allerdings nicht aufseiten der Musik, sondern bei der Regie.

Die von Legenden und politisch-religiöser Vereinnahmung überwucherten Ereignisse der Jahre 1428 bis 1431 in Frankreich unfallfrei auf die Bühne zu bringen, oblag dem – vom heutigen Mailänder Intendanten Alexander Pereira schon zu Zürcher Zeiten protegierten – Regieteam Moshe Leiser und Patrice Caurier. Leiser und Caurier erkennen die zwei grundsätzlichen Gefahren, die wie Skylla und Charybdis in Temistocle Soleras Libretto-Adaption lauern, nämlich Kitsch und unfreiwillige Komik.

Beide zu umschiffen, gelingt ihnen nicht immer, zumal sie sich, wie in vielen früheren Produktionen, einer gewissen grellen Überzeichnung nicht enthalten können. Dabei leuchtet die psychologisierende Rahmenerzählung, mit deren Hilfe die beiden die Darstellung der Ereignisse glaubhafter machen wollen, durchaus ein: Das Mädchen Giovanna liegt im Sterben – ob sie wirklich jene heldenhafte Jungfrau ist, die Frankreich vor den Engländern und Burgundern bewahrte, oder bloss eine visionär entflammte Fieberkranke, bleibt in der Schwebe. Durch die Wände dringen lockende Stimmen, die Giovanna an ihre Mission gemahnen, aber auch teuflische Rufe, die sie zur Sünde verleiten.

Das Bühnenbild von Christian Fenouillat, eigentlich bloss ein karges, bürgerliches Schlafzimmer mit Bett, Sessel und Schrank, stilistisch der Entstehungszeit der Oper entstammend, löst diese Überlagerungen von Vision und Wirklichkeit brillant. Denn immer wieder bricht das sagenhafte Geschehen übersinnlich ein in das leere Krankenzimmer des Mädchens. Karl VII. erscheint ihr als lohengrinhafter Ritter mit goldenem Ross, und am Ende des zweiten Aktes stürzen sich prachtvolle rote Riesenteufel (Kostüme: Agostino Cavalca) leibhaftig auf die arme Giovanna.

Später bricht die Rückwand des Raumes auf, ein bühnenhohes Modell der Krönungskathedrale von Reims erscheint und verschwindet unter Donner und Blitz wieder in der Versenkung. Zuvor übergibt der Heiland höchstselbst Giovanna ihr Kreuz, das sich flugs in die Martersäule ihres Scheiterhaufens verwandelt (obwohl die verbürgte Hinrichtung in Rouen, 1431, nicht im Libretto vorkommt). Und schliesslich senden melancholisch dreinschauende Engel der Sterbenden per Videoprojektion erlösungspralle Wattewölkchen von der Zimmerdecke entgegen.

Höhere Glaubwürdigkeit

Es ist ein Drahtseilakt, den Anna Netrebko in diesem zwischen Bilderorgie und deftiger Ironisierung changierenden Spektakel zu vollbringen hat. Sie tut das einzig Richtige: Sie spielt die Rolle durchweg mit dem besagten heiligen Ernst, mit dem sie schon zu Beginn die güldenen Waffen des Königs ergreift und den Stimmen in ihrem Kopf ihr «Pronta sono» entgegenschleudert. Da stört es auch nicht, dass sie in ihrem Harnisch mit überlangem Schwert eher goldig als heroisch aussieht – ihre Intensität und die hörbare Erfahrung in der Gestaltung der Partie, der sie den sendungsbewussten Ton einer Berufenen verleiht, machen solche szenischen Widrigkeiten vergessen.

Mag sein, dass man die Assoluta unserer Tage stimmlich schon entspannter gehört hat – zuletzt etwa als Leonora im Salzburger «Trovatore». Doch es ist dieses dunkel leuchtende Feuer, das schon ihr erstes Gebet an die Jungfrau Maria «Sempre all'alba» durchglüht und dann bis zum finalen Ausruf «O mia bandiera!» immer heller brennt, das ihrem Rollenporträt eine höhere Glaubwürdigkeit verleiht.

Dabei besitzt Netrebko sogar die Souveränität, sich in den grossartigen Duetten mit dem Tenor Francesco Meli, dem jugendlicher und heller tönenden Sänger des Carlo VII., zurückzunehmen und in der Stimmfärbung anzunähern – besonders eindringlich im zweiten Finale, dem wild entfesselten Concertato mit dem «Coro di Spiriti malvagi».

Dem Chor der Scala gebührt denn auch besonderes Lob, nicht minder dem Orchester, das unter Chaillys Leitung binnen kurzem beeindruckend an Präzision und Spielkultur gewonnen hat. Etwas blasser blieb Devid Cecconi als Einspringer für Carlos Álvarez in der Rolle von Giovannas Vater Giacomo, der Netrebko stimmlich kaum Paroli bieten konnte. Der musikalischen Wucht dieses Plädoyers für den frühen Verdi tat das keinen Abbruch.