"Candide" in München

Knallbunte Show mit Tiefgang

Ein leuchtender Globus aus der Manufaktur Räthgloben in Markranstädt
Wo liegen noch heute kostbare Edelsteine und Piratenschätze versteckt? © dpa / picture alliance / Jan Woitas
Von Jörn Florian Fuchs · 17.12.2015
In Leonard Bernsteins Musical "Candide" reist der jugendliche Held einmal um die ganze Welt, erlebt charmante Krisen und echte Tragödien – in München wird daraus ein sinnliches Spektakel auf Weltklasse-Niveau.
Eine schöne Frage, nicht nur zu Weihnachten: ist unsere Welt nun schlecht oder gut oder sogar die beste aller möglichen Welten? Der Philosoph Pangloss alias Voltaire stellt sie dem jungen Studenten Candide in Leonard Bernsteins eher selten gespielter Operette. Für den Denker ist es klar, natürlich stimmt auf Erden einfach alles, auch Kriege und Naturkatastrophen haben ihren Sinn. Candide hingegen kommt am Ende zum Schluss, die Welt ist wohl weder böse noch gut, man muss einfach leben und die Dinge so akzeptieren. Candides Angebetete Cunegonde stimmt ihm zu und die zwei widmen sich fortan der Obst- und Gemüsezucht im eigenen, kleinen Garten.
Zuvor durchlebten und durchlitten sie, begleitet von einer unüberschaubaren Anzahl weiterer Figuren, eher charmante Krisen sowie echte Tragödien. Cunegonde etwa musste sich prostituieren, schien eine Zeitlang sogar leibhaftig tot, Candide schlug sich unterdessen als Soldat und Weltumsegler durch.
Regisseur und Choreograph Adam Cooper behält den Überblick und inszeniert ein knallbuntes, sinnliches Spektakel mit häufigen Kostüm- und Szenenwechseln, öfters agieren die Akteure nah am Publikum. Hauptspielort ist jedoch eine Art Manege, im Hintergrund sieht man eine riesige Weltkarte. Ein zischender Pfeil zeigt an, wohin die Reise als nächstes geht. Das von Marco Comin temporeich, flüssig aber auch punktgenau geleitete Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz musiziert auf der Hinterbühne, leider müssen dadurch Musiker wie Sänger elektronisch verstärkt werden.
Backfischhaftes Schluchzen
Gideon Poppes Candide ist ein eher sanftmütiger Geselle, der eine schöne, ein wenig leichte Stimme besitzt. Dagegen ist die Cunegonde von Cornelia Zink - als Einspringerin für eine erkrankte Kollegin in letzter Minute! - schlicht Weltklasse. Wunderbare Liebesduette stehen neben backfischhaften Schluchz-Koloraturen oder grimmigen Aggressionslauten, wenn man ihr etwa glitzernden Schmuck wegnehmen möchte. Ein Phänomen ist auch Dagmar Hellberg als Old Lady, die mit herrlichen Dialektspäßen Akzente setzt.
Beim Lesen des Librettos gerät man unweigerlich in große Verwirrung, doch Adam Cooper und seinen Mitstreitern ist es gelungen, das Dickicht aus Handlungssträngen und Ideen zu lichten. Leonard Bernstein schuf eine ständig neue Details fokussierende Partitur, die einerseits vieles aus der Tradition ironisch verarbeitet, andererseits zahlreiche Hits beinhaltet. Man merkt, was für ein Gravitationszentrum Bernstein war und ist. John Adams zum Beispiel hat hinsichtlich Rhythmik und Instrumentation sicher viel von Bernstein gelernt.
Nach der Pause gibt es ein paar Ermüdungserscheinungen, einfach weil man nun schon zu viele bunte Kostüme gesehen hat und doch recht lange auf Weltreise war. Während auf Englisch gesungen wird, gibt man die etwas zu ausführlichen Sprechtexte auf Deutsch, erfreulicherweise können fast alle Sänger auch gut sprechen, was ja eher selten vorkommt.
In der Summe ist die Münchner Produktion beste Unterhaltung − große Show mit gelegentlichem Tiefgang. Das Gärtnerplatztheater braucht den Vergleich mit London oder New York hier wahrlich nicht zu scheuen.
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