„Die vom dritten Tag sind schön, manche lächeln sogar. Denen vom zehnten Tag fehlt da ein Arm, dort ein Bein – sie sind gegen alles Mögliche geprallt … Nach drei Wochen erkennt die Leichen keiner mehr. Zerfressen von den Fischen …“ So brutal und direkt erzählt hier eine Frau, die Mann und Sohn an das Meer verloren hat, von den Folgen der großen Naturkatastrophe, von der Konfrontation mit den Toten. Und die Elemente scheinen sich dazu aufzulehnen. Es knallt und kracht, stampft und röhrt, Schlagwetter rasseln und rumpeln – dumpf, dröhnend, dunkel, bedrohlich. Aber eben nur im Orchestergraben.
Fast fünf Jahre sind Erdbeben, Tsunami und in deren Folge die Reaktorschmelze im japanischen Fukushima her, jetzt fand das Musiktheater keine Antwort – aber zumindest eine Zustandsschilderung. Eine meistenteils stille, elegische, allzu schöne, pathetisch-passive, eher oratorienhafte. An der Hamburgischen Staatsoper wurde der 90-Minüter „Stilles Meer“ von Toshio Hosokawa uraufgeführt. Immerhin.
Oper war noch nie besonders schnell. Acht Jahre vergingen, bis das 1778 erschienene, von der Zensur zurückgehaltene Stück „Der tolle Tag“ von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais sich in die Mozart-Oper „Die Hochzeit des Figaro“ verwandelt hatte. Sechs Jahre brauchte es, bis aus der Kurzgeschichte „Madame Butterfly“ von John Luther Long erst ein Theaterstück und 1904 Giacomo Puccinis „Madama Butterfly“ wurde. Ebenfalls fünf Jahre dauerte es, bis der Roman „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas’ Sohn 1853 zu Verdis „La Traviata“ erblühte. Und Richard Wagner, der kümmerte sich schon gar nicht um Gegenwärtiges.
Rühren in der Mythensuppe
Auch heute rühren die meisten zeitgenössischen Komponisten lieber zum wiederholten Mal in der Mythensuppe der Antike, sie suchen sich gern vielfach ausgespaltene Biografien oder besonders esoterische Themen aus. Immer aus Angst, allzu Konkretes, Tagesaktuelles habe keine Halbwertszeit. Auf Flüchtlingsmusiktheater, Pegida-Tragödien des Hörens oder EU-Abgesangsmusik mit Bildern werden wir wohl vergeblich warten müssen. Vielleicht ist das ja auch gut so.
Der 60-jährige Toshio Hosokawa, gegenwärtig wohl Japans bedeutendster Komponist, lebt zwar in Nagano, aber aufwendigere Werke von ihm haben in seiner musikalisch extrem konservativen, auf europäische Musik von gestern fixierten Heimat keine Chance. Er hat sich bei seiner 1998 bei der Münchner Biennale uraufgeführten „Vision of Lear“ noch auf Shakespeare berufen. „Hanjo“, 2004 beim Festival in Aix-en-Provence herausgekommen, geht zwar, wie alles von ihm Folgende, auf ein Nô-Stück zurück, erzählt freilich einen zeitlosen Dreiecksliebeskonflikt. „Matsukaze“ wurde 2011 von Sasha Waltz in Brüssel als atmosphärische Geistergeschichte am japanischen Meer vertanzt. Jetzt, bei dem weit aktuelleren, wenngleich kaum konkreten „Stilles Meer“, war immerhin das japanische NHK-Fernsehen aufzeichnend dabei.
Wellengeräusche, Wasserreflexionen im noch hellen Saal, die zwölf anonymen, die Dorfbewohner verkörpernden Choristen mit Leuchtkugeln als Erinnerung an die Toten und einem Manga-Droiden auf der Bühne. „Sie befinden sich in der sicheren Zone“, beruhigt eine Stimme. In der sicheren Zone bleibt auch wieder einmal Hosokawa. Schnell ist man bei seiner überschaubaren Anlage tief in Japan-Klischees versunken: Nô-Theater, das den Alltag durchwirkt, Sanftheit und Harmonie, eine kleinteilige Ikebana-Anlage, buddhistische Nähe zur Natur, akustisches Sushi, graziös, spirituell, elegisch, Schönheit der Trauer.
Schon Britten bediente sich bei dieser Vorlage
Die alte Nô-Parabel von einer angesichts ihres toten Kindes verrückt werdenden Frau diente schon Benjamin Britten für „Curlew River“ als Vorlage. Der Regisseur Oriza Hirata, der jetzt zudem die von Hannah Dübgen in simple Worte gefasste Handlung verfasst hat, verknüpfte und konkretisierte diese biografisch mit dem populären Roman „Das Ballettmädchen“.
So konzentriert sich das Geschehen auf drei Personen: Claudia, die Ex-Ballerina, ist die Fremde, die ihren Verlust, vor allem den des Kindes, nicht begreifen mag, während die Japaner, allen voran ihre Schwägerin Haruku, sich dem Furchtbaren stellen, Trauerarbeit leisten; aber auch versuchen, fest verwurzelt in ihren alten Sitten und überlieferten Gebräche, zum irgendwie lebenswerten Alltag zurückzukehren. Dann ist da noch Stephan, Claudias Expartner, ebenfalls Tänzer, der seinen Sohn zweimal verloren hat: erst als Claudia ihm jeden Kontakt entzog und jetzt, als ihn das Meer geholt hat. Stephan sucht die Annäherung und wird doch nur zurückgewiesen, bleibt völlig allein.
Hosokawa und Hirata klagen nicht an und klären nicht über die Katastrophe und ihre Folgen auf. Sie ist passiert, nichts ist mehr zu ändern. Gleichmütig zieht das Licht auf der Rückwand ins grell Schwefelgelbe auf und dimmt zurück. Sparsam ist das neutrale, schaufensterartige Bühnenarrangement von Itaru Sugiyama. Über einer schrägen, von unten blau glimmenden Plexiglasscheibe hängen zehn, dann nur noch eine Neonröhre – die Atombrennstäbe? Rechts führt eine Rampe ins Nichts. Man trägt später Strahlenschutzanzüge und fügt sich in das Unvermeidliche.
Kent Nagano ist jetzt in Hamburg angekommen
Schon zum Auftakt rührt Kent Nagano, er hat ungesehen seinen Dirigentenplatz eingenommen, die Trommeln. Immer wieder schwellen die als wiederkehrendes Ostinato an, künden von der Gewalt und Größe der Ereignisse. Dazwischen aber singt, schwingt, wispert und säuselt es in vielen Glissandokaskaden über stetig neuen Liegetönen. Flöte und Holzbläser, auch das Blech stechen durch diese instrumentale, halb trübe Misosuppe. Es ist nicht viel Neues, Aufregendes in dieser Musik, aber ein ehrliches, anrührendes Bemühen um Betroffenheit und Anteilnahme. Nagano, mit dieser gefeierten, von ihm in Auftrag gegebenen Uraufführung als neuer Musikdirektor wirklich angekommen, stellt das in seinen feinfühligen Verästelungen strukturklar und leuchtend, analytisch, aber auch mitfühlend aus.
Den Rest aber besorgen die Sänger, die sich hier wirklich zum Bedeutungsschwerpunkt dieses meist leisen, diskreten Musiktheaters aufschwingen. Susanne Elmark verkörpert in einem rosa Mantelkleid den trotzig uneinsichtigem Widerstand der Claudia gegenüber dem Verlust mit rot leuchtendem, vollem Sopran. Die Bayreuth-erfahrene Mihoko Fujimura ist eine moderne Erda-Figur, wissend, mezzo-mütterlich, vermitteln wollend, nach vorn gewandt. Aber allein der Countertenor Bejun Mehta (Stephan) lässt in seiner ruhigen Stimme Tränen fließen. Ihm gelingt intensiv ein emotionales, dabei sehr einfaches Beteiligtsein, wo diese Oper sonst allzu oft nur vornehm-ästhetisches Konstrukt bleibt.
„Ist die Nacht ohne Mond, fragt die Sterne. Ist die Nacht ohne Sterne, fragt die Wellen. Ist die Nacht ohne Wellen, fragt die Wolken …“ So verblasen fernöstlich philosophisch wie die vorzüglichen, von Eberhard Friedrich bestens studierten Hamburger Vokalsolisten begonnen haben, so schließen sie auch wieder ihren ewigen Zen-Lebenskreis. Alles dreht sich weiter. Doch fünf Jahre nach einer solchen Katastrophe hätte man von der Kunst doch etwas mehr erwartet als nur eine verspätete Trauerode.