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Paul-Georg Dittrich über-inszeniert Bergs „Wozzeck“ am Theater Bremen Das Leben, ein Albtraum

Bremen. In dieser Stadt ist mächtig viel los. Mehrstöckige Gerüstbauten mit Zimmern, die Verschlägen gleichen, ein Lautsprecherturm, Kabinen mit durchsichtigen Wänden.
15.02.2016, 00:00 Uhr
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Das Leben, ein Albtraum
Von Iris Hetscher

In dieser Stadt ist mächtig viel los. Mehrstöckige Gerüstbauten mit Zimmern, die Verschlägen gleichen, ein Lautsprecherturm, Kabinen mit durchsichtigen Wänden. Hier schaukelt eine Einäugige im Rokokokostüm, dort schauen sich Kinder auf sechs Fernsehern gleichzeitig brutale Animationsfilme an. Oben wuselt der Hauptmann, weiter hinten der Doktor, unten schüttelt Marie das Bett auf. Die Bühne dreht sich, damit klar wird, das auch die Geschichte, die erzählt wird, eine ist, die immer und immer wieder passiert. Und wer die Story um den geschundenen Soldaten Wozzeck trotz all ihrer Deutlichkeit nicht begreifen sollte, für den hat Regisseur Paul-Georg Dittrich im Theater am Goetheplatz zwei große Leinwände aufhängen lassen. Dort sind Sequenzen über die Schlüsselszenen des Dramas zu sehen, die gerne blutig (Rasiermesser!) oder auf andere Weise unappetitlich sind. Auf jeden Fall sind sie überflüssig. Doch der Regisseur ist zugleich Videokünstler, da musste diese zusätzliche mediale Ebene wohl sein.

Dabei braucht „Wozzeck“, diese Tour-de-Force-Oper von Alban Berg, das Brimborium nicht. Das hervorragende Sängerensemble übrigens auch nicht, doch dazu später. „Wozzeck“, in 15 Szenen und drei Akten nach dem Dramen-Fragment von Georg Büchner gebaut und 1925 uraufgeführt, ist eine Perle der Opernliteratur, aber keine leichte Kost. Berg verwendet in den drei Akten Formen der Instrumentalmusik, sinfonische Strukturen und Inventionen – das Ganze ist derart vollendet symmetrisch konstruiert, das die Oper immer noch eine Offenbarung für Musikwissenschaftler ist. Doch sie profitiert auch von zwei klugen Kunstgriffen Bergs: Er hat seine atonale Klangwelt mit viel Tonalem gemischt, verwendet Tanz- und Kabarettmusik, Märsche, Lieder. „Wozzeck“ sollte kein akademisches Experiment sein (dafür war Bergs Lehrer Arnold Schönberg zuständig), das Werk wollte möglichst viele Zuhörer erreichen. Daher sind die Szenen kurz, der Schluss ist klar, der Hörer muss von den vielen musikalischen Kniffen nichts wissen, um sich in die Dramatik hineinziehen zu lassen.

Die ist enorm: Der Soldat Wozzeck (Claudio Otelli) lebt mit Marie (Nadine Lehner) und dem gemeinsamen unehelichen Kind in einer namenlosen Stadt. Der Sold reicht nicht, daher hat er Nebenjobs, rasiert den Hauptmann (Martin Nyvall), stellt sich dem Doktor (Christoph Heinrich) für medizinische Experimente zur Verfügung. Marie und das Kind sieht er selten, der ständige Druck hat Spuren hinterlassen: Wozzeck hört Stimmen und hat Visionen. Als Marie sich mit dem Tamboumajor (Christian-Andreas Engelhardt) einlässt, eskaliert die Situation. Wozzeck ersticht sie und bringt sich kurz darauf um. Der Sohn bleibt allein und verspottet zurück, bereit, der nächste Wozzeck zu werden.

Dittrich hat ein gutes Händchen für das Schauspieltalent seiner Sänger. Claudio Otelli verleiht Wozzeck mit seinem markant ausgesungenen Bariton die nötige Tragik, aber auch sein Spiel beeindruckt: Mal wirkt er wie paralysiert, dann bricht es aus ihm heraus. Immer scheint er zu ahnen, dass er als einer, der nicht so funktioniert, wie er sollte, nur verlieren kann. Mit Marie ist er beinahe schüchtern. Die gibt Nadine Lehner als Verzweifelte, die sich überall und mit sich selbst sowieso unwohl fühlt. Eher freudlos gibt sie sich dem Tambourmajor hin. Lehner lässt ihren Sopran dabei von kräftig bis bittend strahlen, zwischendurch bricht es auch mal rau aus ihr heraus; das Schlaflied für ihr Kind im ersten Akt zeigt sie als ermüdete Mutter.

Auch den anderen Figuren hat Dittrich klare Charakterisierungen mitgegeben, von schmierig (Tambourmajor) bis größenwahnsinnig (Doktor), und wenn die Sänger ungestört agieren dürfen, entfaltet sich die sogartige Spannung dieser Oper, die in Bremen zuletzt 1976 aufgeführt wurde, sofort.

Doch Dittrich traut diesem Zauber nicht, und das macht den 100 Minuten langen Abend viel anstrengender, als er sein müsste. Da leuchten auf den sechs Fernsehern ständig Schlagwörter wie „Gehorsam“, „Präzision“ oder „Strafe“ auf, die Handwerksburschen staksen als Aufziehpuppen (samt Schlüssel auf dem Rücken) über die Bühne, und wenn die Videoleinwände nicht vom Geschehen ablenken, tut dies eine surrealistische Projektion auf einem transparenten Vorhang.

Die Bremer Philharmoniker unter Markus Poschner schaffen es trotz dieses Bilder-Overkills auf der Bühne ebenso wie das gesamte Sängerensemble (samt Opern- und Kinderchor), die Kraft der Bergschen Musik zu vermitteln. Dabei lässt Poschner die tonalen Elemente gerne breit ausspielen und setzt wütend-schneidende atonale Akzente, deren Dynamik wunderbar ausgearbeitet ist.

Am Ende bleibt es ein zweischneidiger Abend im Theater Bremen. Weniger Überbau – im Begleittext ist tatsächlich von „unausgewogener Work-Life-Balance“ und der „Erwerbsarmut der neoliberalen Gesellschaft“ die Rede – hätte ihn zu einem Genuss machen können.

Die nächsten Termine: 20. und 25. Februar

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