Eine neue Bühne für Genf

Mit Händels Oper «Alcina» eröffnete das Grand Théâtre de Genève seine Ausweichspielstätte, die Opéra des Nations. Die Premiere erwies sich sogleich als Prüfstein für die Akustik des neuen Saals.

Tobias Gerber, Genf
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Zerfallende Blütenträume: Händels «Alcina», in Szene gesetzt von David Bösch, in der neuen Opéra des Nations. (Bild: Magali Dougados)

Zerfallende Blütenträume: Händels «Alcina», in Szene gesetzt von David Bösch, in der neuen Opéra des Nations. (Bild: Magali Dougados)

Immerhin 1118 Plätze bietet der kompakte, aus vorfabrizierten Einzelteilen errichtete Holzbau, den das Grand Théâtre de Genève am Montag mit Georg Friedrich Händels Oper «Alcina» eröffnete. Anstelle von Samt und Lüster erwartet die Zuschauer in der Opéra des Nations eine unprätentiöse Zweckarchitektur mit erfrischend nüchterner Atmosphäre. Den hölzernen Theaterbauten des 16. und 17. Jahrhunderts nachempfunden, bietet das Ausweichquartier in der Nähe des Uno-Geländes der Genfer Oper während der zweieinhalbjährigen Renovation ihres Stammhauses Unterschlupf. Dabei soll der Bau mehr sein als ein Provisorium – er soll die Oper in die Lage versetzen, ihren Spielbetrieb ohne nennenswerte Einschränkungen aufrechtzuerhalten. Das Zauberstück «Alcina» erschien dem Generalintendanten Tobias Richter für den Einstieg in das Interim als «ideale Oper». Die Premiere der Händel-Oper erwies sich freilich sogleich als Prüfstein für die Akustik des neuen Saals.

Nichts als schmachten?

Für die barocken Klänge des Orchestre de la Suisse Romande und vor allem des Barockensembles Cappella Mediterranea unter der Leitung von Leonardo García Alarcón erwies sich die Akustik im wahrsten Sinne als etwas hölzern. Gestalteten der Barockspezialist Alarcón – teilweise selbst am zweiten Cembalo musizierend – und das Orchester Tempo und Charakter der einzelnen Partien sehr vielfältig, hatte die Continuo-Gruppe neben den Streichern des Orchesters oftmals Mühe, sich klanglich durchzusetzen; nicht weil die Streicher zu laut oder massig gewesen wären, sondern weil der Saal diffizilere Klangfarben wie jene von Harfe, Theorbe, Cembalo und Gambe eher schlecht überträgt. Dadurch wurde das Klangbild stellenweise von den mittleren und vor allem von den tiefen Streichern dominiert, und das musikalische Spiel verlor zwangsläufig an Leichtigkeit.

Für die Regie bedeutet die bilderreiche Geschichte um die Zauberin Alcina, entnommen dem Epos «Orlando furioso» von Ariost und verwoben mit allerlei barocken Nebenhandlungen, ebenfalls eine Herausforderung. David Bösch behilft sich in seiner Inszenierung mit dem Rotstift, indem er die Figur des Oberto eliminiert, der seinen Vater in Alcinas hingezaubertem Inselreich sucht. Dies führt tatsächlich zu einer gewissen Straffung, der die Regie und die Darsteller dann aber auf andere Weise entgegenarbeiten. Über weite Strecken führt Bösch die Personen nämlich nur schwach, auch die Charakterisierung der Figuren bleibt zu konturlos.

So hat anfangs zwar Alcinas Schwester Morgana (Siobhan Stagg) in ungehemmter Anzüglichkeit einen markanten Auftritt. Daneben aber wirken Bradamante (Kristina Hammarström) und Melisso (Michael Adams) – gestrandet auf der Suche nach dem von Alcina bezirzten und lustvoll verzauberten Ruggiero – nicht nur etwas verloren auf ihrer Reise, sie stehen auch genauso auf der Bühne herum. Dass sie mit ulkigen Gesten um Aufmerksamkeit buhlen, schafft keine Abhilfe, im Gegenteil. Auch Alcina (Nicole Cabell) und Ruggiero (Monica Bacelli) erschienen im ersten Akt eher fahl: Während die Zauberin in ihrer Arie «Di', cor mio, quanto t'amai» die vergangenen Zeiten junger Liebe beschwört, kann Ruggiero nichts anderes als schmachten. In ihrer zweiten Arie («Sì, non quella!») erscheint Alcina dann aber bereits als Gebrochene, aus der früh jene Verzweiflung spricht, die sie bis zum Ende mit sich tragen wird. So unverbindlich die Beziehungen zwischen den Figuren, so vorschnell nimmt hier die Regie vorweg, was sich über die gut zweieinviertel Stunden der Aufführung erst entwickeln könnte.

Stimmenfreundliche Akustik

In der zweiten Hälfte des zweiten Aktes erreicht die Inszenierung dann eine entscheidende Verdichtung mit Alcinas «Ah! mio cor!»: Die gespannte Ruhe der Zauberin, auf Messers Schneide zwischen Resignation und Hass, wird in Nicole Cabells Gesang physisch greifbar. Von hier an steht das Stück auf festerem Boden – als habe jemand den richtigen Schalter umgelegt: Eine Dynamik entsteht, die sich erst gegen Ende des dritten Aktes wieder etwas verliert.

Im Unterschied zu gewissen instrumentalen Klängen haben es Stimmen einfacher im neuen Saal. Das demonstrierten insbesondere Siobhan Stagg als Morgana mit ihrem hellen und manchmal leicht schnippischen Sopran, wie auch Kristina Hammarström, die mit warmem Alt der Rolle der Bradamante schöne Facetten entlockte. Auch Nicole Cabells Potenzial an stimmlichem Ausdruck entfaltete sich mehr und mehr.

Nicht restlos überzeugend wirkte dagegen der Umgang der Sänger mit den Da-capo-Arien: Dass sie sich grösstenteils zurückhielten in der Auszierung der Da-capo-Teile, erschien als falsche Bescheidenheit, wäre sie doch stilistisch hier sehr wohl am Platze gewesen. Zudem hätten die Wiederholungen jedem Einzelnen Gelegenheit geboten, sein gesangliches Können noch mehr zu exponieren und dabei den dargestellten Charakter mit musikalischen Mitteln stärker zu differenzieren. Auf diese Weise hätte ein bewussterer Umgang mit dem barocken Gesangsstil den Schwächen der Regie entgegenwirken können.