Die perfekte Altersrolle

Plácido Domingo führt in Mailand vor, wie man eine ideale Rolle ohne banalen Effekt zeichnet: allein aus dem Wort und einer lebenslangen Verinnerlichung von Verdis Idiom. Der Regie geht das völlig ab.

Michael Stallknecht, Mailand
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Gut gebrüllt, Löwe! Plácido Domingo (Mitte) mit Francesco Meli und Anna Pirozzi in «I due Foscari» an der Mailänder Scala. (Bild: PD)

Gut gebrüllt, Löwe! Plácido Domingo (Mitte) mit Francesco Meli und Anna Pirozzi in «I due Foscari» an der Mailänder Scala. (Bild: PD)

Haar und Bart sind mittlerweile völlig ergraut, doch das unverwechselbare Timbre hört man noch immer: Mit wechselndem Erfolg hat sich der einstige Star-Tenor Plácido Domingo in den vergangenen Jahren verschiedenste Baritonrollen erobert – an der Mailänder Scala beweist er nun, dass die des Francesco in Giuseppe Verdis Oper «I due Foscari» zu den glücklichsten Funden gehört. Verdis Frühwerk von 1844 erzählt die historisch verbürgten Ereignisse um den venezianischen Dogen als Geschichte eines Mannes, der kurz vor dem Ende seines Lebens alles verliert: Francesco Foscari muss als oberster Repräsentant Venedigs den eigenen Sohn verbannen helfen, bevor er selbst die Macht einbüsst. Nachtschwarz ist der Pessimismus dieser Oper, in der das Gemeinwesen vollständig korrupt ist und der Einzelne immer schon auf rätselhafte Weise schuldig.

Verdi lebenslang verinnerlicht

Erlebt man Plácido Domingo nun in dieser für ihn perfekten Altersrolle, möchte man umso mehr bedauern, dass Verdi nie seinen lange gehegten Plan einer Oper nach Shakespeares «König Lear» verwirklicht hat: Domingo wäre zurzeit ohne Frage dessen ideale Verkörperung. Dass lange Töne bei ihm inzwischen leicht zittern, Verzierungen nicht mehr ganz flüssig laufen – diese Verschleisserscheinungen erhöhen hier nur die Authentizität der Darstellung. Der Sänger, der am 21. Januar offiziell seinen 75. Geburtstag beging, verfügt noch immer über genügend Kraft, um seinen Foscari in den entscheidenden Momenten buchstäblich gegen das Schicksal rebellieren zu lassen. Vor allem aber führt Domingo mustergültig vor, wie sich solche Rollen auch ohne banale Effekte zeichnen lassen – allein aus einer genauen Deutung des Worts und einer lebenslangen Verinnerlichung von Verdis musikalischem Idiom.

Es ist wohl das, was Alvis Hermanis auch für seine Inszenierung vorschwebte: ein selten gespieltes Stück ganz für sich sprechen zu lassen. Der lettische Regisseur, der kürzlich am Hamburger Thalia-Theater mit einer offenbar politisch motivierten Absage für Aufregung sorgte, überrascht im Opernbereich seit Jahren durch einen Stilpluralismus, der Regietheater-Ansätze ebenso umfasst wie die Wiederaufnahme traditioneller Erzählformen. Nicht ohne Provokation bekannte er einmal, der «altmodischste Regisseur des 21. Jahrhunderts» werden zu wollen. Dass er an der Scala das Historiendrama «I due Foscari» nun ohne alle Brechungen in historischen Kostümen zeigt, geht dabei jedoch auch für ihn sehr weit. Das von Hermanis selbst entworfene Bühnenbild setzt auf wenige konkrete Versatzstücke, während Videoprojektionen venezianische Stadtansichten und sonstige Historiengemälde zitieren.

Doch gelingt Hermanis dabei eigentümlicherweise nicht, was gute konventionelle Produktionen durchaus können: die Atmosphäre eines Stücks unmittelbar anschaulich werden zu lassen. Seine Bilder wirken zu hell und zu aufgeräumt, die Kostüme von Kristīne Jurjāne zu sauber für die Geheimgerichte und Folterkeller, von denen hier erzählt wird. Übergrosse Sängergesten lassen die Handlung fortwährend in Tableaus erstarren, die so zitathaft wirken, so seltsam aseptisch, als traue ihnen der Regisseur selbst am allerwenigsten. Wenn dann im Schlussakt ein paar Jung-Ballerinos mit neckischem Rudertanz Gondolieri mimen, hat das etwas von einer verzweifelten Parodie. Wie sich mit traditionellen Mitteln noch immer sinnvoll erzählen lässt, belegt da schon weit eher das Dirigat.

Geschmack und Claque

Auch Michele Mariotti setzt am Pult nicht auf Risse und Dunkelheiten, sondern auf den warm-weichen, sanft federnden Klang des Scala-Orchesters. In den langsamen Passagen nimmt er sich viel Raum, gewährt den Sängern die klassischen Ritenuti. Doch das alles geschieht mit stilsicherem Geschmack.

Mariotti staffelt den Klang genau, lässt durchdacht phrasieren und bringt Verdis Musik auf diese Weise eindringlich zum Sprechen. Schnelle Passagen kommen rhythmisch straff und mit knackigen Akzenten daher, die Chöre entfalten hohe Schlagkraft. Es ist nicht nur ein insgesamt sehr italienischer, sondern auch ein absolut Scala-würdiger Opernabend. Der Tenor Francesco Meli gestaltet den Dogensohn Jacopo Foscari mit schönen Schwelltönen und subtilen Mezza-voce-Effekten als introvertierten Jüngling. Dass er trotzdem kein Jammerlappen ist, stellen ein paar kraftvolle Ausbrüche und Acuti klar.

Noch grössere Ansprüche stellt Verdi an die Sopranrolle der Lucrezia, die über Koloraturen ebenso verfügen muss wie über dramatischen Aplomb, über zarte Kantilenen wie satte Spitzentöne. Anna Pirozzi, die im Rahmen eines Förderprojekts für italienische Sänger an der Scala debütiert, leistet dies alles nach nervösem Beginn mit erstaunlicher Souveränität. Dass sie von der obersten Galerie zuerst niedergezischt und später ausgebuht wurde, dürfte jedenfalls eher mit den traditionell undurchsichtigen Machenschaften der Mailänder Claque zusammenhängen als mit ihrem Gesang.

Die Höchststrafe eines italienischen Opernpublikums ereilte dagegen den Regisseur Hermanis: ein Standard-Applaus ohne jedes Buh oder Bravo.