Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Brinkhoff/Mögenburg

Aktuelle Aufführungen

Eidgenössische Erstarrung

GUILLAUME TELL
(Gioachino Rossini)

Besuch am
6. März 2016
(Premiere)

 

 

Staatsoper Hamburg

Der Schweizer Roger Vontobel traut der Tell-Sage seines Heimatlandes nicht über den Weg. In der ersten Neuinszenierung der Hamburger Oper seit 1915 und der ersten Opernregie des vielfach preisgekrönten, jungen Schauspielregisseurs sind viele liebgewordene Elemente des Epos verfremdet und auf Distanz gehalten.

Wilhelm Tell ist ein alter, überwiegend griesgrämiger Besserwisser, der als Maler eines großen Panoramabildes, einer Modeerscheinung zu Zeiten der Entstehung der Oper, offenbar unkritisch, jedenfalls in der Handlung unbegründet, die Restauration vergangener Zeiten, und zwar nicht nur in der Malerei, sondern auch im politischen Sinne zu betreiben versucht.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Dafür sind ihm das Opfer eines jungen Liebespaares und der potenzielle Tod des eigenen Kindes kein zu hoher Preis. Der Schuss auf den Apfel auf dem Kopf seines eigenen Kindes findet jedoch nicht real oder durch etwaigen Bühnenzauber statt, sondern wird vielmehr von einem Mann aus dem Volk, das Gessler zuvor inständig, aber vergeblich um Verzicht auf diese grausame Tat bittet, künstlich durch das Ergreifen des Pfeils aus Tells Hand und Aufspießen eben des Apfels herbeigeführt. Die Tat wirkt wie eine verzweifelte emotionale Aktion zur Vermeidung einer von Tell hingenommenen, unverantwortlichen Gefahr.

Die Schweizer sind dabei nicht unbedingt ein liebenswertes Bergvolk, sondern eher eine regelmäßig mindestens angeschwipste, im Allgemeinen etwas einfältig daher torkelnde, unbedarfte Gesellschaft. Naturbilder finden gleichfalls eher im Orchester als in irgendeiner Form auf der Bühne Darstellung oder Widerhall.

Foto © Brinkhoff/Mögenburg

Die Habsburger Besatzer sterben am Ende unter blutroten Pinseln durch Tell und seine Malerfreunde den Tod durch Historienmalerei. Tell hat sein Ziel erreicht und erstarrt in der Pose des Bildmotivs von Ferdinand Hodlers L’Unanimite – die Einmütigkeit. Tell und sein Volk doppeln damit das während der gesamten Oper zur Restauration dominant im Hintergrund stehende Panorama-Bild – und runden es in solider Friedhofsruhe ab.

Real ausgespielt und auf der Bühne erlebbar sind dazu im Gegensatz jedoch jederzeit Gewalt und Bedrohung durch die Besatzer sowie als Gegenpol die liebende Zuneigung von Arnold und Mathilde. Außerdem allgegenwärtig ist die die Gewaltbereitschaft Tells, welcher schlussendlich die wahnsinnige Tat begeht, sein eigenes Kind durch einen Preisschuss potenziell zu opfern, zu töten und auch nach der Aussetzung des Schusses zu keiner weiteren Weisheit und Entwicklung fähig scheint.

Aber auch andersherum: indem der alte Melchthal nach seinem Tod in traditioneller Horror-Maske als Gespenst bis zum Schluss weiter durch die Handlung geistert, wird er als Opfer und Märtyrer der Gewalt sowie als Rachefürst der Ahnen real lebendig gehalten – ganz im Gegensatz also zu vielen Handlungselementen, die durch Abstraktion relativiert werden oder ganz verschwinden.

Durch diese Konzeption ist fast jede liebgewordene Sichtweise ausgehebelt. Fast jede gewohnte Erinnerung an die Tell-Sage läuft ins Leere. Aber: es kommt zu einer fokussierten Konzentration auf die Kernelemente einer zeitgemäßen Botschaft, nämlich die Hoffnung auf die Kraft der Liebenden angesichts einer allgegenwärtigen Gewalt. Diese Drohung besteht nicht nur in der Besetzung eines Landes durch eine ausländische Macht, sondern auch im Auge-um-Auge Prinzip des Helden und später der blinden Verherrlichung einer heroisierten, nicht hinterfragten Geschichte.

Dieser Tell basiert damit auf einem intellektuellen, sehr konzept-orientierten Regie-System. Die Umsetzung erfährt durch das Bühnenbild von Muriel Gerstner und die Kostüme von Klaus Bruns sowie das Licht von Gerard Cleven eine geschlossene, überzeugende Form. Die kühle Anmutung steht allerdings oft quer zu Gestus und  Lyrik der Musik. Es gelingt nicht durchgehend, Szene und Musik in einen überzeugenden Bezug zu stellen. Ein solcher Bezug kann, wie hier angestrebt, auch konträr zur klassisch musikalischen Welt der Entstehungszeit stehen, benötigte aber zum Beispiel eine der Oper angemessenere Personenführung. 

Auf jeden Fall stellt die Regie damit hohe Ansprüche an die Aufnahmebereitschaft des Publikums. Stellt sich die Frage, inwieweit die Form der heute teilweise antiquiert wirkenden Grand Opéra, deren Ursprung Rossinis Tell begründet, damit belebt oder relativiert wird. Glaubwürdigkeit und Bedeutung der in der Vorlage auch heute noch relevanten Elemente werden jedenfalls durch die Entlarvung der zweifelhaften traditionellen Sichtweisen gefördert.

An der Spitze des Sängerensembles stehen der koreanische Tenor Josep Kang als Arnold und die chinesische Sopranistin Guanqun Yu. Beide werden ihren anspruchsvollen Rollen fulminant gerecht. Selten hört man die schwierigen Passagen mit solcher Ausgeglichenheit und Schönheit. Die Kraftreserven beider Solisten erscheinen grenzenlos. Das asiatische Paar wirkt wie die Umsetzung der Globalisierung der Sängerszene auf der deutschen Opernbühne. Christina Gansch als Tells Sohn Gemmy steht den beiden in nichts nach. Sie verbindet die Strahlkraft ihrer Stimme mit einer großen, unbekümmerten Spielfreude. Vladimir Baykov als Gessler und Kristinn Sigmundsson als Melchthal erfüllen darstellerisch und gesanglich in allen Facetten ihre anspruchsvollen Rollen. Sergei Lieferkus hat eine lange Karriere in vielen Rollen und auf vielen Bühnen der Welt hinter sich. Er überzeugt in der Darstellung eines rückwärtsgewandten und starren vermeintlichen Helden. Stimmlich scheint dieses Rollenportrait auf ihn abgefärbt zu haben. Jürgen Sacher als Rudolph, Alin Anca als Walther, Katja Pieweck als Tells Frau Hedwig, Giorgio Misseri als Ruodi und Bruno Vargas als Leuthold ergänzen das Ensemble auf hohem Niveau.

Der Chor und Extrachor der Hamburger Oper sind glänzend vorbereitet und haben sichtlich Freude an den großen Aufgaben – sie stehen unter der exzellenten Leitung von Eberhard Friedrich.

Auch wenn das Haus in vorangegangenen Jahren einige frühe Verdi-Werke erarbeitet hat, gehört das frühere italienische Fach, insbesondere die tragische oder heroische Oper und Grand Opéra der Vor-Verdi Zeit nicht zum Kernrepertoire des Orchesters. Gabriele Ferro leistet zusammen mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg eine hervorragende Umsetzung der nicht einfachen Partitur. Vereinzelte Wackler in der Interaktion von Orchester und Chor können an der Aussage nichts ändern. Das Werk wurde in einer konzentrierten Fassung unter Weglassung der in der Grand Opéra traditionellen Ballette sowie unter Verwendung der von Rossini selbst in späteren Fassungen eingeführten Striche gegeben.

Das Publikum feiert Kang, Yu und Gansch mit lauten und lang anhaltenden Bravos. Auch die anderen Mitwirkenden erhalten langen Beifall und Bravorufe. Gemischte Reaktionen mit starken Bravo-, aber auch Buhrufen für das Regieteam – es hat wohl zu viele herkömmliche Erwartungen enttäuscht.

Achim Dombrowski