Wenn Bilder Geschichte schreiben

Der Schweizer Regisseur Roger Vontobel erkundet in einer heftig umstrittenen Deutung von Rossinis letzter Oper die Macht nationaler Mythen und Symbole. Er rührt dabei an manches Tabu.

Marcus Stäbler, Hamburg
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Wir wollen sein ein einzig Volk von bunten Gesellen: Gioachino Rossinis «Guillaume Tell» in Hamburg. (Bild: Brinkhoff & Mögenburg)

Wir wollen sein ein einzig Volk von bunten Gesellen: Gioachino Rossinis «Guillaume Tell» in Hamburg.
(Bild: Brinkhoff & Mögenburg)

Wenn der Schweizer Intendant Georges Delnon seinen Landsmann Roger Vontobel nach Hamburg engagiert, um – ausgerechnet – den «Guillaume Tell» von Gioachino Rossini auf die Bühne der Staatsoper zu bringen, dann scheint sich eine bestimmte Lesart anzudeuten. Lokales Kolorit liegt in der Luft. Aber weit gefehlt: Vontobel denkt nicht daran, in die Folklore-Falle zu tappen und den Schweizer Gründungsmythos zu verklären. In der Hamburger «Tell»-Produktion, seiner ersten Inszenierung für das Musiktheater, nutzt er den bekannten Stoff vielmehr, um sich gegen nationalistischen Eifer zu wenden und dabei von der Macht der Bilder zu erzählen. Vontobel und seine Bühnenbildnerin Muriel Gerstner modellieren nicht nur farbenprächtige Tableaus für Rossinis Grand Opéra – etwa mit dem Kontrast zwischen durchchoreografierten und blockhaften Massenszenen –, sie rücken auch buchstäblich ein Gemälde ins Zentrum: Auf der Rückwand der Bühne prangt eine Panoramaansicht von Ferdinand Hodlers «Einmütigkeit», auf der eine Gruppe von Männern bedeutungsschwer die Arme in die Luft reckt.

Dieses Monumentalgemälde wird erst zum Rütli-Schwur am Ende des zweiten Aktes enthüllt und später von den Schergen Gesslers schwarz überpinselt – die Herrschaft über die Bilder ist ein wichtiges Machtinstrument. Deshalb inszeniert Vontobel den Tell als Maler des Widerstands. Zu Beginn sind die Schweizer noch nicht geeint, der Rädelsführer und seine Getreuen werkeln am Wandfresko der Einmütigkeit, das zunächst mit Packpapier verdeckt ist. Ein rot-weisser Schlagbaum sperrt ihre Baustelle ab, mit der mehrdeutigen Warnung: «Attention. Restauration!»

Wilhelm Tell, abseits vom Malergerüst ein seriöser Stimmenfänger mit Krawatte und grauem Anzug (Kostüme: Klaus Bruns), bringt langsam, aber entschlossen alle Abtrünnigen auf Linie. Auch Arnold, der die habsburgische Prinzessin Mathilde liebt. Nach Tells Vorwürfen wird er von einem wandelnden Bild des Grauens zur Rache getrieben: Der vom Landvogt Gessler ermordete Vater Melchthal verfolgt seinen Sohn als blutverschmiertes Zombie-Wesen auf Schritt und Tritt, um den Hass auf die Herrscher am Kochen zu halten. Auch der Krieg für das vermeintlich Gute fordere seine Opfer und werde von niederen Instinkten genährt, sagt der Regisseur, der den Fanatismus der Freiheitskämpfer entlarvt, ohne deren Knechtschaft zu beschönigen. Er zeigt den Landvogt Gessler als sadistischen Despoten; seine schwarz uniformierten Soldaten zögern nicht, das eigene Volk mit Maschinengewehren zu bedrohen.

Einziger Lichtblick zwischen den starren Fronten ist die Nähe von Mathilde und Arnold, deren hinreissendes Duett Vontobel im zweiten Akt mit einem Regen weisser Blätter beträufelt. Als wolle er sagen, seht her, es klingt kitschig, ist aber wahr: In der Liebe keimt die Hoffnung. Schliesslich ist es Mathilde, die die Fronten aufbricht, die Gessler Einhalt gebietet, als er Tells Sohn in Ketten legen will. Die Liebenden erheben sich über den Konflikt und weisen so den Weg.

Dass dieses Paar auch die beiden herausragenden Sänger des Abends vereint, passt ins Bild. Die Sopranistin Guanqun Yu beeindruckt ebenso mit ihrer stimmlichen und darstellerischen Präsenz wie der Tenor Yosep Kang, der die mörderische Partie des Arnold bravourös meistert. Weil er sie eben nicht stemmt, sondern wirklich singt; jede seiner Linien, jedes der gefürchteten achtzehn hohen C hat Leuchtkraft, Kern und Schmelz. Aus der insgesamt überzeugenden Ensembleleistung sticht ausserdem die junge Sopranistin Christina Gansch als Gemmy hervor. Dagegen wirkt der Tell von Sergei Leiferkus eher matt und in den französischen Vokalfarben bisweilen grobschlächtig.

Gabriele Ferro leitet die Aufführung von Rossinis letztem, melodiensattem Meisterwerk routiniert und mit Momenten von lyrischer Wärme, allerdings hat er erhebliche Probleme, das Philharmonische Staatsorchester und den in diesem Werk vielbeschäftigten Chor zu koordinieren, der eher durch seine breite Farbpalette als durch Tempo-Sicherheit besticht. Ungeachtet der musikalischen Schwächen, konzentriert sich der Unmut des Premierenpublikums am Ende auf das Regieteam. Tatsächlich provoziert Vontobel mit seiner Deutung bis zum Schluss: In der letzten Szene stellt er Hodlers «Einmütigkeit» auf der Bühne nach, Tell und seine Männer heben die Arme wie auf dem Gemälde zum Schwur – und als Gemmy seinem Vater Wilhelm die tödliche Waffe reicht, drückt Tell ihm nicht etwa eine Armbrust, sondern einen Pinsel in die Hand, mit dem er dem Tyrannen Gessler blutige rote Striemen auf den Hals streicht. Will sagen: Auch hier ist es das Bild, das zählt und das Geschichte schreibt.

Mit seinen Irritationen und Brechungen – die freilich auf die Dauer etwas plakativ geraten und vereinzelt, wie im Falle des Apfelschusses, recht bizarre Umwege um das Wohlbekannte gehen – sabotiert der Regisseur den heiligen Ernst der nationalen Symbolik. In der heutigen Welt muss man zu den Mythen des eigenen Volkes eine gesunde Distanz entwickeln, weil Abgrenzung nur schadet und letztlich zu tödlichen Konflikten führt: Mit dieser Botschaft berührt Roger Vontobel ein zentrales Thema unserer Zeit – und richtet sich schliesslich doch auch explizit an seine Landsleute in der Schweiz.